Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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Eine vibrierende, rohe Platte. Die leisen Sohlen waren trügerisch.

      Popsicle

      „Popsicle“ (1995)

      Großer Pop entsteht gemeinhin aus Talent und Arroganz. Popsicle ersetzen Faktor zwei durch Bescheidenheit. Nicht nur deshalb erinnern die midtempoverliebten Schweden an die britische Legende The Kinks. Sie haben Coolness und Schnauze, einen melancholischen Bassisten und juchzende Rhythmusgitarren, ihr Augenaufschlag ist von skeptischer Traurigkeit und Andreas Mattesons Gesang so beiläufig nasal wie der von Ray Davies. Ah, trauten sie sich doch!, schreit es im Kritiker, der gern dabei ist, wenn Geschichte gemacht wird – doch dieser Schrei ist grundfalsch. Denn sie sind so gut, weil sie sich nicht trauen. Und machen vielleicht deshalb Geschichte.

      Prince

      „The Black Album” (1995)

      Das Symbol schäumt. Vor sieben Jahren ließ es unter dem Namen Prince das „Black Album“ einstampfen, jetzt bringt es die Plattenfirma doch auf den Markt. Dieser vorläufige Höhepunkt eines erbitterten Streits ist Warners Rache für den Namenswechsel, der Tricky-Prince Seitensprünge mit anderen Firmen ermöglicht. Doch was schert’s das Publikum. Es darf sich ergötzen am dunklen, harten, zuckenden Funk von 1987, der zum besten Prince-Material überhaupt zählt: Synthiebläser zum Bäumezersägen, Drums und Computerbeats wie Presslufthämmer, Gitarrenschroffheiten von giftiger Kürze. Wer das klanglich ebenbürtige Bootleg noch nicht hat, kann – laut Warner – noch bis zum 27. Januar zuschlagen. Danach darf das Symbol sich wieder abregen.

      Prince alias T.A.F.K.A.P.

      „The Gold Experience” (1995)

      Das Symbol ist versöhnt mit der Plattenfirma, wir konzentrieren uns wieder auf die Kunst. Davon gibt es viel im Prinzenreich, und ist ein Song mal nicht so toll, reißt der Begnadete ihn raus mit überbordender Arrangementfantasie. „The Gold Experience“ ist ein akustischer Trip ohnegleichen, bietet effektive, elegant am Abgrund des Manierismus entlangschlitternde Klangartistik. Der Künstler, der einst als Prince berühmt war, glänzt mit brillant ausgefeiltem Kunstpop, der seine Klangmittel – ob Harfe, Grillen, Hammond oder Slapbass – zielgenau positioniert. Er ist der Zappa der Black Music. Und würde er als Single nicht das schwachbrüstige Jackson-Fake „Gold“, sondern den staubtrockenen, von der Hammond befeuchteten und dann von Bläsern abgefackelten Hipfunker „Now“ auskoppeln, hätte er ALLES richtig gemacht.

      Pulp

      „Different Class” (1995)

      „Versteht“, flehen Pulp, „wir wollen keinen Ärger; nur das Recht, anders sein zu dürfen. Das ist alles.“ Jagger hat 1964 niemanden gefragt, bevor er den Fernseher durchs Fenster warf. Vielleicht ist es diese kleinmütige Höflichkeit à la Pulp, die dem Britpop wieder auf die Beine half: Alle, ob Prols oder Mittelständler, dürfen die neuen Bands lieben. Die Neoromantiker um den sexy Sänger Jarvis Cocker haben dem jungen Bowie und den späten Boomtown Rats viel zu verdanken. Und bei einem so grandiosen Stück wie „Common People“ fühle ich mich – Verzeihung – glatt an Carl Philipp Emanuel Bachs „Magnifikat“ erinnert: dieselbe hymnische Power. Halt nur ein anderes Jahrhundert.

      Scott Walker

      „Tilt” (1995)

      Alle zehn Jahre auftauchen, der Welt einen Brocken hinschmeißen, verschwinden. Bei Scott Walker ist das nicht kokett, eher religiös. Der Mann eignete sich zum Guru, wäre er nur sichtbarer. Aber er will heilige Ruhe und wird so zum Mythos. „The sun ain’t gonna shine anymore“ ahnte er schon vor 30 Jahren als einer der Walker Brothers. Seit 1967 erkundet er solo die verdunkelte Welt. Dabei werden seine Platten mehr und mehr zu einer liturgischen Form des Pop, zu Kunstmusik mit Bariton. Ihr Klima ist eisig und verschlossen. Kalte Streicher, Noisefetzen, rasselnde Perkussion. Und darin treibt unberührt diese pathoszitternde Stimme, singt Gedichte, hebt Verse durch Wiederholung ins Rituelle. Nur Tim Buckleys „Starsailor“ ist vergleichbar. Wenn Walkers neue CD losläuft, fühlt man sich augenblicks wie ein Flipper, an dem jemand zu heftig ruckelte: erstarrt. Oder besser: tilt.

      Soul Asylum

      „Let your dim Light shine” (1995)

      Im Stück „Caged Rat“ schicken sie Synthesizer, Metalbass und Trompete zusammen in den Ring, und heftige Taktwechsel sollen zusätzlich zeigen, dass es ihnen manchmal schon stinkt, plötzlich everybody’s darling zu sein. Doch Versuche wie diese klingen halbherzig, und die Midtempoballaden im Stil des Megahits „Runaway Train“, bei denen die geschrammelte Akustische den Rock einweicht, weisen die Richtung: vom Clubcore zum Mainstream, von anonymen Groupies zu Winona Ryder. Den falschen Fans wird keine Strat über den Schädel gezogen, sie werden mit Ohrwürmern umschmeichelt. Und mit dem einzig richtig guten und dafür gleich grandiosen Song „My own Devices“ müsste auch wieder ein Hit dabei sein.

      Stepchild

      „Stepchild” (1995)

      Sie nennen es „Doohop“, ich „Barbershop-TripSoul“, doch das ist wohl nicht so griffig. Fünf Brüder namens Stephens: Sie singen besser als die Jackson Five, stricken Klangräume, an denen Donald Fagen sich erfreute, doch wer ihrem virtuosen Schmeichelsoul zwischen Bass und Alt zu sehr traut, der fliegt auf die Nase. Denn die Jungs singen mit Unschuldsmiene derbe Sachen im Geiste Frank Zappas. Oder welch junge Dame widerstände schon diesem Anmachspruch: „I’m a good lover/just ask your mother“? Stepchild sind heiß, ihr Stilmix neu, und ihr Synthietüftler (wer immer das ist) arrangiert ihnen, was sie wollen: ob Earth, Wind & Fire oder Sly Stone. Sie sind arrogant. Die Charts warten auf sie. Und meine Repeattaste fordert die 30-Stunden-Woche.

      Steve Earle

      „Train A Comin’” (1995)

      Abseits von Nashville hat die Rootsmusik längst die Attitüde des kernigen Bessermenschentums aufgegeben. Drogen, Depressionen: alles da. Auch bei Steve Earle. Er schien am Ende, seit Jahren kein Ton. Jetzt ist er zurück und beschließt seine traurige Bluegrassplatte symptomatisch mit Townes Van Zandts Moritat von Caroline aus dem „Tecumseh Valley“. Caroline, in der Fremde erschüttert vom Tod des Vaters, zu dem sie zurückkehren wollte, wird zur Hure, deren fatalistische Lust die Freier fasziniert. Natürlich stirbt sie, und auf dem Abschiedsbrief steht ein Lebwohlgruß ans Tecumseh-Tal, das verlorene Eden. Eine Klischeegeschichte, durch Poesie und Ellipsen vorm Kitsch gerettet. Und Earles Platte, grandios gestaltet von Norman Blake (dobro, g), Peter Rowan (md) und Roy Huskey (b), ist im Ganzen genau dasselbe: ein leiser Gruß ans vergangene Paradies. In Earles Stimme, in jeder Silbe, die er singt, liegen alle Drinks und Sniffs und Joints seines Lebens. Ich weiß nicht, ob große Kunst nur um den Preis der Selbstzerstörung zu haben ist. Aber am Ende einer solchen Platte bin ich fest davon überzeugt, einen ganzen Abend lang.

      Sun

      „XXXX” (1995)

      Kurt Cobain hat im Rheinland reinkarniert, und zwar im Körper eines gewissen Jörg Schröder, der für eine Band namens Sun singt, die mit diesem Album wahrscheinlich das größte Meisterwerk des nichtamerikanischen Grunge abgeliefert hat. Ihre grandiose Härte, ihre lyrischen Arrangementideen (Flöten, Harmonikas), der verzweifelt emphatische Gesang, die mächtigen Gitarren – all das summiert sich auf zum schmerzvollsten Songzyklus seit Soundgardens „Superunknown“. Die Epigonen laufen mit den Heroen um die Wette, nicht einmal das Zielfoto vermag den Sieger dieses Rennens zu bestimmen – und das ist wahrscheinlich das größtmögliche Kompliment für Epigonen.

      Supreme Chord Jesters

      „Hungry for the Word” (1995)

      Was ist Zeit? Wer eine 59-Minuten-Scheibe „EP“ nennt, hat eine besondere Vorstellung davon. SCJ lassen sich viel Zeit. Sie