Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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in den blühenden australischen Rockuntergrund, wo es offenbar beste Bedingungen für neue Talente gibt. Für Lizard Train zum Beispiel: in ihrem rohen, improvisierten Psychoblues kämpft ein Sänger den heroischen Kampf gegen Gitarrenmonster, Feedbacks und Schleppschlagzeug. Crent dagegen fungieren als Nachtschattenversion von ZZ Top, und No Comply sind eine Punkband, die groß werden MUSS, sonst verlieren wir den Glauben an die Rockgerechtigkeit: so unnachgiebig hat selten eine Einbahnstraßenrhythmusgruppe die schönsten Melodien durch Marshall-Verstärker geprügelt.

      Verschiedene Künstler

      „Your Invitation to Suicide – A Tribute to Alan Vega” (1994)

      „Eines Tages“, erzählt Alan Vega, „enschied sich Marty dafür, während des ganzen Gigs nur eine Note zu spielen. Aber welch eine Note! Ich lief herum wie verrückt, sprang ins Publikum. Jemand versuchte mir eine Flasche über den Schädel zu ziehen. Es gab mehr Leute auf der Bühne als davor. Ich verjagte sie, und Marty hielt immer noch diese Note für eine ganze elende Stunde. Als der Gig vorbei war, kam der Clubbesitzer mit Tränen in den Augen an, umarmte mich und sagte: ,Alan, glaubst du, dass du DAMIT deinen Lebensunterhalt bestreiten kannst?’ Ich tat ihm wirklich mächtig leid“. – Ja, ja, wenn Onkel Alan vom Krieg erzählt … Und jetzt kriegt er dafür sogar eine Hommage – von Thin White Rope und anderen verqueren Geistern. Es lebe der Wahnsinn!

      ZZ Top

      „Antenna” (1994)

      Hätte Musik eine Erdenschwere, die von ZZ Top wöge eine Tonne. Könnte man Musik in Farben beschreiben, die von ZZ Top hätte ein tiefes Rot, das schon früh am Abend aussähe wie pures Schwarz. Ein träger Herzschlag durchpulst diesen Bluesrock – wie der eines Wüstentiers, das sich vorsichtig bewegt, um nicht vor Hitze zu explodieren. Mit „Antenna“ finden die Mormonen wieder zurück zu sich selbst: zur reinen Form eines schwer rockenden, angestrengt-kehligen Texas-Blues, der T-Shirt-Mädels preist oder legendäre Radiozeiten oder das Leben der Eidechsen. Vorbei der gefloppte Flirt mit dem Pop, es zählen nur noch Dusty Hills dunkle Bassattacken, Billy Gibbons’ quiekende Soli und Frank Beards schnurgerade Beats, die nur noch selten von kecken Sequenzern aufgemöbelt werden. Auf „Antenna“, dem ersten ZZTop-Album seit fünf Jahren, ist kein Ton neu, doch jeder gut für eine gute Gänsehaut. Killerriffs, Mann.

      1995

      „Bei ihm jault die Elektrische, als hätten seit Hendrix’ Tod nicht Legionen von Saitenwichsern ihre eklen Feedbackeiterbeulen öffentlich ausgedrückt.“

      aus der Rezension zu „Mother Tongue“ von Mother Tongue

      Aerosmith

      „Get a Grip” (1995)

      23 Jahre lang lieferte Pink Floyds Kuhcover für „Atom Heart Mother“ das rindviehtechnische Optimum. Jetzt kommen Aerosmith: Ihre Coverkuh trägt nicht nur ihr B(r)andzeichen, sondern auch einen Ohrring im Euter. Das ist witzig, und ihr Hardrock ist fulminant: Der breitmäuligste Shouter aller Zeiten, Steven Tyler, singt sich die schwarze Seele aus dem Leib und setzt schrille Harmonika-Fanfaren obendrauf; die Gitarristen Perry, Whitford und Hamilton schrammeln schnörkel- und makellos, Drummer Joey Kramer hat den R’n’B mit Löffeln gefressen. Zusammen mit einer prächtigen Bläsersektion setzen Aerosmith knallharte, eherne Maßstäbe – auch dank brillanter Songs wie „Livin’ on the Edge”. Wie sagt Jon Bongiovi: „Ich wünschte, ich wäre halb so lange halb so gut wie Aerosmith.“ Eine verspielte Krachscheibe, in der manche Melodien unterzugehen drohen, die aber zugleich vergessen lässt, dass die Exkokser nun auch schon 23 Jahre im Geschäft sind. So lange eben, wie Pink Floyds Kuhcover das rindviehtechnische Optimum lieferte.

      Bill Laswell

      „Axiom Ambient: Lost In The Translation” (1995)

      Mehr als andere Musik macht diese CD des New Yorker Avantgardisten Bill Laswell den Sehsinn entbehrlich. Sie verdunkelt die Welt und benutzt Klänge als Fackeln, Kerzen und Halogenstrahler. Der Mann, der schon Anfang der 80er genreübergreifend dachte, verbindet US-Jazz mit afrikanischen Rhythmen, lässt Oboen durch weite Klangräume hallen, um ihnen rätselhafte Technogrooves an die Seite zu stellen. Manche Übergänge sind abrupt; es sind geisterhaft aufsteigende Zitate aus Alben seines Axiom-Labels, die wieder wegdämmern und in Weltmusik oder statischen Soundskulpturen aufgehen. Ein Album gegen MTV und Viva. Ein Album nur für die Ohren – Visionen kommen dann von selber, versprochen.

      Björk

      „Post” (1995)

      Die Zukunft des Pop ist bunt. Im Gewitter der Genres werden sich viele verirren, werden Trampelpfade ins Dickicht schlagen, die niemand je wieder betreten wird. Gefragt ist jemand, der die Pfade zusammenführt zum Grand Boulevard des Pop, jemand, der gut weiß, dass sie wichtige Zubringer sind. Björk, das singende Sugarcubes-Aschenputtel aus dem Land der Geysire, ist mit „Post“ zu jener Figur gereift. Sie integriert, was auseinanderdriftet, versammelt fähige Köpfe (Tricky, Nellee Hooper), trommelt die ganze Welt zusammen, um sie mit Ethnofood und im Quartett angerührter feiner Streichersoße zu füttern. Sie bittet zum Tanz und füllt zugleich die Köpfe, sie lässt jazzen und lärmen. Björks Entwicklung ist atemberaubend. Wo „Debüt“ Ideen ausstreute von artifiziellem, ausgetüfteltem Elektropop, ist „Post“ nun am (Zwischen-)Ziel angelangt: bei einer angeschmutzten Steely-Dan-Version zum Tanzen, bei Big-Band-Industrial, bei TripHop zum Hinhören. Die Zukunft des Pop ist bunt. Und seine Prophetin kommt aus Island.

      Blur

      „The great Escape” (1995)

      In jenen Splatterfilmen, wo stets ein Monster aus dem Bauch früh ausscheidender Protagonisten hervorbricht, machen diese kurz davor immer Geräusche, die sich anhören wie „Blööörrh“. Ob die Londoner Band Blur sich darüber im Klaren ist? Ihr aparter Britpop jedenfalls ist dem Splatter so fern wie Mutter Teresa der Callgirlkarriere. In einem Duell, das ganz Britannien fesselt, kabbeln sie sich mit den Prollpoppern Oasis aus Manchester, und das tut der Szene gut. Oasis vs. Blur, das heißt Bauch gegen Kopf, bratzende Gitarren gegen perlendes Piano, Arroganz gegen Nonchalance. Und wenn zwei solche Alben dabei herauskommen – roh und großmäulig zwischen Bowie und Glitter (Oasis) oder dandyhaft-süffig zwischen Bryan Ferry und den Kursaal Flyers (Blur) –, lebt der Britpop noch. Am Ende siegen Oasis 4:3.

      Chris & Carla

      „Life full of Holes” (1995)

      Mit den Walkabouts suchen die beiden das Herz des Rock’n’Roll, als Duo füllen sie die Speicher des US-Volksliedgutes. Chris Eckman und Carla Torgerson aus Seattle sind ein Paar in der Kunst wie im Leben. Sie schreiben und spielen Songs von feiner, unkitschiger Schönheit, von folkverwurzelter Melancholie und unromantischer Todesgewissheit. Auch durch diesen leisen, von Gästen wie Peter Buck (R.E.M) oder den Tindersticks unterstützten Liedzyklus geistert der Tote des Jahrzehnts, Kurt Cobain. Daran wird die Popgeschichte noch lang zu schlucken haben, aber auch ihre Mythen aufbauen – ob sie nun die Gefilde des Rock’n’Roll erforscht oder jene des Folk.

      David Bowie

      „Outside” (1995)

      „I think I lost my way“, singt Bowie. Falsch. Das Popchamäleon, das sich seit 1967 geschmeidig an die Zeitläufte schmiegt und sie oft genug prägte, findet auch in den 90ern seinen Weg. Oder besser: seine Wege. Denn „Outside“ ist so komplex wie noch keine Bowie-Platte – pure Popavantgarde. Piano und Perkussion bilden die Basis, darüber fließen Klangströme mit westlichen und östlichen Nebenarmen. Und manchmal (wie in „Hearts of filthy Lesson“) gelingt es Bowie sogar, die spirituelle Kraft von Santana/McLaughlins legendärer Coltrane-Hommage „Love Devotion Surrender“ (1973) mit groovendem Ambientrock zu verbinden. Der Mann lässt sich einfach nicht abhängen.