Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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genau auf den Punkt bringen.

      David Baerwald

      „Triage” (1993)

      Wenn ein Songwriter seiner Plattenfirma das Bonmot zusteckt, der Song „Secret silken World“ sei auf der letzten CD nicht aufgetaucht, weil seine Freundin Joni Mitchell ihn als „zu düster und unerquicklich“ eingestuft habe, riecht das stark nach Imagepflege. Trotzdem ist „Triage“ ein Genuss für Leute, die solides Songhandwerk lieben – vor allem, wenn es sich so kunstvoll verschiedene Genres von Blues bis Pop einverleibt. „Secret silken World“, dessen wir nun Mitchells Veto zum Trotze gewahr werden, ist der dunkel pulsierende Höhepunkt der Platte, nicht zuletzt dank der bedrückenden Trompete. Wer die spielt? Believe it or not: Herb Alpert!

      Dead Can Dance

      „Into the Labyrinth” (1993)

      Wie zerbrechliche Madrigale, wie karge, durchsichtige Hymnen von schlichter Eleganz und Intimität arrangieren Brendan Perry und Lisa Gerrard ihre sacht perkussiven, von elektronischen Streichern und Blasinstrumenten durchwehten Songs, die dem Mittelalter so viel zu danken haben wie englischen und orientalischen Folktraditionen. Es ist schwer, dem Zauber dieser CD zu widerstehen. Sie kommt aus einer verwunschenen Nische des Pop, und der Weg dahin scheint von Spinnweben, uraltem Efeu und Feenflügeln versperrt. Man darf ihr nicht zu nahe treten, sollte sie aber ganz nah an sich heranlassen. Auch um solcher Bilder willen: „The storm clouds gathering/moved silently along the dusty boulevard“.

      Ed Kuepper

      „Serene Machine” (1993)

      Bei aller ungebrochenen Kreativität hat der australische Songschmied nach 20 Jahren im Business wohl die Hoffnung auf den großen Durchbruch aufgegeben. Dabei geht auch „Serene Machine“ erneut als schieres Meisterwerk durch. Zwölf fiebrige, psychedelisch angehauchte Songs auf Akustikgitarrenbasis, die wirken wie eine Frischzellenkur. Allein für den Bedacht und die Zärtlichkeit, mit der Mark Dawson in der wunderbaren Ballade „This hideous Place“ die Drumtupfer setzt, lohnt sich die Anschaffung. Aber es gibt noch elf Gründe mehr. Mindestens. Im Vergleich zum größten Teil der Popwelt wirkt Kuepper wie der Ayers Rock im Wüstensand.

      Einstürzende Neubauten

      „Tabula Rasa” (1993)

      Wir haben hier karge Kommentare zum Zerfall der Zivilisation, abgerungen den diversen Crossoverprojekten der Neubauten: einem Performancesoundtrack für Erich Wonder in Wien, der Ballettmusik für die kanadische Gruppe La La La Human Steps und Theaterkompositionen für Heiner Müller. Unter den Trümmern: tote Beziehungen, aber auch einsame, sich behauptende Blumen, cunnilingueske Liebeslyrik („Lass mich dein Delta durchschwimmen/geneigten Hauptes durchqueren/Lass mich kosten das wahre Salz der Welt/Zungenfisch in deinem See sein“). Durchsichtige Sounds, Schlagwerk, elektronisches Zirpen, Bassgebrumm, erstmals „fremde“ Sprachen. Gegenüber ihrem Meisterwerk „Haus der Lüge“ haben Blixa Bargeld, FM Einheit, N. U. Unruh, Mark Chang und Alexander Hacke diese sieben „funktionellen“ Sprech- und Klangcollagen entschlackt, die Musik aufs Skelett abgenagt. Die Einstürzenden Neubauten sind noch immer die atemberaubendste Herausforderung seit der Erfindung von Presslufthammer und Abrissbirne.

      Fishbone

      „Give Monkey a Brain and he’ll swear he’s the Center of the Universe” (1993)

      Der Trend, auf Plattenlänge möglichst viele Genres in möglichst authentischer Form abzuhaken, ist zum Dogma geworden. Kaum ein jüngeres Rock- oder Popalbum, das sich schlicht an einem Stil versucht – anscheinend ist das Ende der Genrealben angebrochen. Der Mixturmanie geben sich auch Fishbone hin: Zwischen Dylan und den Dead Kennedys gilt es ja auch ein riesiges Feld zu bestellen, und sie tun es mit atemloser Hingabe, mit energischem Willen zum Erfolg. Dass ihnen bei dieser schier übermenschlichen Aufgabe nicht die Luft ausgeht, liegt schlicht an den instrumentalen Fertigkeiten der Band. Doch wie so viele Crossoverversuche leidet auch dieses Album unter mangelnder Kompaktheit – für sich genommen klingen viele Songs (sogar die Hardcorenummer) überzeugend, als Konvolut geben sie dem Ganzen kein Gesicht. So bleibt das Beste an dieser CD ihr sarkastischer Titel.

      Fred Mc Dowell

      „Mississippi Blues” (1993)

      Für Fred McDowells Version von „Baby please don’t go“, die nach trägem Beginn schneller wird und schneller, bis sie davonrattert wie ein Wells-Fargo-Zug, der dem flehenden Lover die Geliebte letztlich doch entreißt – für diese Version dürfen getrost sämtliche Scheiben von Robert Gray und Gary Moore im Müll verrotten. Leider ist dieser Klassiker – Pointe! – nicht auf der CD, dafür aber sieben andere Schätze des großen Bluesbarden, eingespielt 1965 mit (etwa) 60 Jahren. Seine Spezialität: die melodiesynchron gezupfte Gitarre mit schleppenden rhythmischen Brücken in den Gesangspausen samt aufs Korpusholz geklopftem Takt. Die Aufnahmequalität ist schlecht, die Songauswahl nicht die beste und dennoch akzeptabel. Bis auf eine Big-Bill-Broonzy-Nummer („Louise“) hat Fred sie alle selbst geschrieben – wobei man dem überkanditelten „Over the hill“ deutlich das Vorbild Robert Johnson anhört.

      God Is LSD

      „Spirit of Suicide” (1993)

      Nachdem der sog. Technovirus monatelang in den Discos getobt hatte, schien das Gegenmittel gefunden: der Impfstoff „Unplugged“ vom Hersteller MTV. Doch der Virus war schlauer, verließ flugs das Ghetto der Tanzschuppen und mutierte. Ihm gelang es, mit anderen Viren zu koalieren. Diese CD dokumentiert seine Fusion mit dem sog. Metalvirus, der seinerseits vom sog. Ethnovirus verseucht ist. Gemeinsam gelang es dem Trio, ins bislang unversehrte Gitarrenland vorzudringen, was vor allem der Hilfe des sog. Samplingvirus zu danken war, den man sich zudem kurzerhand einverleibte. Ein mörderischer Cocktail! Und man mutiert munter weiter.

      James Taylor

      „Live” (1993)

      Episch breit enftaltet der altgediente Songwriter 25 Jahre seines Repertoires, das sich aus aggressionslosem Blues, larmoyanten Folksongs und schlichten Evergreens speist. Live und mit üppiger Folkpopbegleitung behält er bei, was seinen Studioplatten stets eigen(tümlich) war: Die Drogen- und Beziehungsabgründe, in die er zu blicken hatte, waren seinen Songs nie anzuhören. Verzweiflung las sich in Taylors Übersetzung bittersüß, Erschütterndes entschärfte er im Seichten. Selbst am Rande des Abgrunds war er immer der Softie vom Dienst – eben „Sweet Baby James“. Insofern: ein repräsentatives, dazu brillant kompiliertes und abgemischtes Doppelalbum.

      John Hiatt

      „Perfectly Good Guitar” (1993)

      Hiatts Songs riechen nach Erde, Schweiß und Westen, und die Refrains schleichen sich nachts in deine Träume. Ob er’s nun beklagt, dass „those stars“ bühnenöffentlich Klampfen zertrümmern, oder ob er im Stil von The Band das mythentriefende „Buffalo River Home“ beschwört: Hiatt weiß für jedes Sujet die richtige Form; er bleibt auf dem (Gras-)Teppich des US-Bluesrock, während wir abheben, davonfliegen im Fluss der Geschichten und Gitarrenströme, die aus ferner Vergangenheit aufquellen und dennoch weit in die Zukunft weisen. Hiatts Meisterwerk, ein Meilenstein. Woody Guthrie würde sagen: bound for glory.

      John Martyn

      „Couldn’t love you more” (1993)

      Olle Kamellen? Indiz 1: kein neuer Song unter den 15 Titeln dieser CD; Indiz 2: John Martyn ist so alt, dass ihn bereits die wuselig gen Zukunft lärmenden End-70er als BOF (boring old fart) hätten abtun können. Dass es den Schotten (künstlerisch) trotzdem noch gibt, liegt schlicht an seiner musikalischen Integrität. Er ist ein Songschreiber und Musiker, wie es nur wenige gibt. Seine sphärisch-jazzigen Echoexperimente auf der Gitarre, die der Exfolkie live zu hypnotischen Trips