der besten Rock’n’Roll-Band der Welt. Exfolk- und -countryrocker Neil Young („Heart of Gold“) ist seit „Live Rust“ (1980) zum fanatischen Schmutzfink geworden, der mit Hingabe endlose Gitarrenschlammschlachten ausficht – so anachronistisch und dröhnend laut, dass es schon wieder hip ist. Alle paar Jahre schüttelt er die dahindösenden, verlorenen Junkies von Crazy Horse aus dem Drogendämmer, und wie elektrisiert stehen sie stante pede stramm, um loszurocken wie nach einer Adrenalinüberdosis. In eigener Sache haben sie es nicht mal zu einem Eintrag im Rocklexikon gebracht, aber mit Young sind sie genial. Allen voran Ralph Molina, der zu jedem Bassdrumschlag synchron die Becken drischt und Young gnadenlos vorwärtstreibt. Dies ist live noch dreimal schärfer, härter, dreckiger als im Studio – und länger: „Like a Hurricane“ etwa, die ultimative Young-Hymne, läuft eine knappe Viertelstunde (ärgerlich: ein blödes Break nach der Hälfte). „Weld“ bietet eine Auswahl aus 20 Jahren Young und ist die beste Liveplatte, die der Mann aus Toronto bis dato vorgelegt hat. Dank der verlorenen Junkies von Crazy Horse.
Paradise Lost
„Gothic” (1991)
Uff … Wer diese Attacke überstanden hat, ist entweder reif für die Klapse – oder süchtig. Noch während sich die Journaille den Kopf über die Schubladisierung der Debüt-LP zerbrach, haben Gruftiesänger Nick Holmes & Co. das zweite Album hingelegt: ein brachiales, düster-aggressives Gitarrenwerk mit Zombiegesang und manch schrillem, hohem Riff, das man nie mehr vergisst („Shattered“). Paradise Lost klingen ungefähr so, als hätten die Untoten aus Romeros Kinoklassiker „Night of the living Dead“ in einer Fresspause eine Rock’n’Roll-Band gegründet. Wenn dann aber wie aus dem Nichts eine zarte elfengleiche Frauenstimme dem monströsen Sound die Schranken weist, dann ist es so weit, dass man sich mit Grausen abwendet – oder süchtig wird. Für mich ist das Zombiecore oder Nekrothrash, vielleicht auch Cemeterypunk. Irgendsowas.
R.E.M.
„Out of Time” (1991)
Wir melden: einen Klassiker der künftigen Rockgeschichte! Michael Stipe ist der charismatischste US-Sänger seit Jim Morrison, und die Aufrichtigkeit, Klarheit und Authentizität von R.E.M. ist allenfalls noch mit den frühen Aufnahmen von The Band zu vergleichen. Schwermütige Gitarren und brillanter Harmoniegesang, Spinette und Orgeln, Streicher, Saxofone und treibende Drums: Alles hat seinen (richtigen) Platz. Ein Meisterwerk zwischen Pop und Rock, das Bestand haben wird. Anspieltip: „Country Feedback“, die melancholischste Gitarren-Slow-Motion-Ballade seit Neil Youngs „Out on the Weekend“ von 1972.
Ryuichi Sakamoto
„The sheltering Sky” (1991)
Wie Bernardo Bertoluccis Film bezeichnet der Soundtrack einen Reiseverlauf: von Nord nach Süd, von orchestralen Elegien in Moll zu pulsierenden afrikanischen Rhythmen, verbunden durch Lionel Hamptons „Midnight Sun“. So existentialistisch wie der Film ist auch die Musik der ersten Hälfte. In sinfonischer Breite entfaltet Sakamoto ein schweres, bedrohliches und doch betörend schönes Trauergewand – zweifelsohne wird er sich endgültig als Morricone des Ostens etablieren, zumal ihm mit dem Titelthema eine schier zeitlose Hookline gelang. Ganz am Ende stehen fiebrige, hypnotische Flöten und ferne Frauenstimmen, die Paul Bowles, Autor der Romanvorlage, 1955 in Marokko aufgenommen hat. Dank dieser Kontraste ein Soundtrack von eigentümlicher Faszination. Es kann passieren, dass man ihn zwanghaft dreimal in Folge auflegen muss. Keine Vermutung: Erfahrung.
Sylvia Anders
„Tango Alemàn” (1991)
„Tango Alemàn“ heißt zwar die CD, doch beschränkt sich die Schauspielerin Sylvia Anders keinesfalls auf bloß eine ethnografische Spielart des weltberühmten Tanzes. Gemeinsam mit dem Bandoneonstar Juan José Mosalini, dem Marburger Komponisten, Texter und Pianisten Justus Noll und weiteren hochkarätigen Musikern singt, schreit, stöhnt und chargiert sich die grandiose Interpretin durch sämtliche Tangofacetten: vom lasziven, streng reglementierten Tanz über ironisch gefärbte Chansons („Kriminal-Tango“) bis hin zu Brecht/Weillschen Varianten und klassischen Adaptionen eines Strawinsky oder Kagel. Die Anders sprüht geradezu vor Engagement und Fabulierlust. Eine exzellente Aufnahme.
The Doors
„Original Motion Picture Soundtrack” (1991)
Neu an dieser brillanten Kollektion ist „nur“ die Abmischung. Das reicht aber schon, weil die alten Doors-Titel noch nie besser klangen als hier. Den Fans, die von „Light my Fire“ bis zu den posthum vertonten Gedichten natürlich längst alles im Regal haben, werden glatt die Ohren übergehen. Denn es ist, als stünde „Lizard King“ Morrison persönlich in der Stube, um uns seine bizarre Lyrik ins Ohr zu flüstern und zu schreien. Und musikalisch gibt es in diesen Zeiten nichts, was den Doors-Songs auch nur annähernd das Wasser reichen könnte. Was den ganzen Rummel ums Morrison’sche Todestagsjubiläum glattweg rechtfertigt.
The Pogues
„Best of” (1991)
Eine seltsame Dramaturgie verwandelt diese Kollektion gleichsam zum Epitaph: Shane MacGowan, charismatischer und stets guinnessgetränkter Sänger der Pogues, wurde vom Rest der Band gefeuert – seine Wachphasen zwischen den Delirien wurden immer kürzer. „The Best of“ führt uns noch einmal vor Ohren, wie sehr das besoffen um die Melodien schwankende Organ MacGowans den Sound der Pogues prägte, die der Rotzigkeit des Punk so viel zu danken haben wie der bierseligen Aura irischer Pubs. Sie waren die Antithese zu den Dubliners, ihr „Dirty old Town“ war wirklich rußverdreckt. Bin gespannt, ob der Ersatzsänger Joe Strummer (Ex-Clash) das so hinkriegt.
This Mortal Coil
„Blood” (1991)
Lass dich fallen in diese Musik, sie ist weich wie ein Daunenkissen. Und wenn dich, sehr selten, ein Federkiel etwas zu pieken scheint, dann ist das nur ein kurzes E-Gitarrensolo, aus dem so etwas wie ein Bezug zur Rockgeschichte vage herauszudeuten ist. Ivo Watts-Russell, Spiritus Rector dieses Projektes, feiert zum nunmehr dritten Mal zeitlupenhaften Schönklang und die harmonische Verschmelzung entrückter Frauenstimmen mit Kammermusik und süffiger Breitwandelektronik. Prätentiöse Songs, die U- und E-Musik auf einen gemeinsamen Nenner bringen: den der Melancholie. Entweder man hasst „Blood“ als 76-minütiges selbstmitleidiges Getue, oder man verfällt ihr als gelungener akustischer Umsetzung eines großen Weltschmerzes. Trauer jedenfalls trug nie ein samteneres Kleid.
Verschiedene Künstler
„Harry Chapin Tribute” (1991)
Noch eine Tributentrichtung. Den Anlass liefert diesmal nicht ein Todes-, sondern der 45. Geburtstag von Harry Chapin, dem 1981 tödlich verunglückten Songdichter. Keine Beerdigungsparty also, sondern eine durchweg lustige Sache. Bruce Springsteen erzählt davon, wie Harry ihn immer schrecklich zugelabert hat, und das Publikum ist entzückt. Pat Benatar gibt ähnlich herzige Geschichten zum Besten, und die längst verschollen geglaubte Judy Collins darf den einzigen Chapin-Hit „Cats in the Cradle“ in üblicher Manier intonieren; selbst Peter, Paul & Mary haben zur posthumen Gratulation kurzfristig das Mausoleum der Popgeschichte verlassen. Richtig rund und rührend, diese von Chapins Hymne „Circle“ würdevoll eingerahmte Liveperformance. Der den Barden zum Heiligen stilisierende, hochnotpeinliche Booklettext dürfte den zeitlebens bescheidenen Harry allerdings vor Scham zur 180-Grad-Drehung im Grab animiert haben. Auszug: „The hungry people of the world lost perhaps their most impassionate advocate. This country lost a champion of freedom and peace.“ Im Mittel- oder im Schwergewicht … ?
Verschiedene Künstler
„I’m your Fan – A Tribute to Leonard Cohen” (1991)
Der kanadische Lyriker, Romancier und Songinterpret Leonard Cohen war der schwarze Romantiker der Hippieära.