Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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und ein Viertel Jahr” (1991)

      Christian Redl ist Schauspieler in Hamburg. Er mag François Villon, vor allem in der Übersetzung von Paul Zech. Die hat er genommen, hat hochkarätige Musiker dazu aufspielen lassen und sodann die uralten, ewigjungen Balladen rezitiert – mit Hingabe und Anteilnahme, ganz so, als seien sie eben erst entstanden und der Pariser Dichter und Heißsporn nicht schon tot seit 500 Jahren. „14 und ein Viertel Jahr“ heißt die CD, und genau so alt war die Geliebte, der gleich im ersten (und schönsten) Stück, „Cylea“, wehmütig gehuldigt wird. Villon war ein Poet des Windes und des Sommers, einer des prallen Lebens und vor allem: einer des Eros. Derb und zärtlich zugleich preist er die Freuden körperlicher Liebe, giert lüstern nach dem roten Erdbeermund der Gespielin, seufzt in fließenden Jamben: „Die Luft erbrach sich fast vor Fruchtbarkeit/Und unsereins hat Gott wer weiß wie lang nicht mehr/Sich in ein Weiberfell hineingewühlt.“Vieles passiert im Freien, Wind, Gras und Vögel mischen immer mit beim Liebesakt. Uns, auf Ökozide stets gefasst, wird da schnell ganz weh ums Herz bei so viel unschuldig-hymnischer Naturbeschwörung, bei so viel Synonymität von Sex und sommerlichen Wiesen. Redl beschwört die reiche, ganz diesseitig gewendete Sprach- und Sinnenwelt Villons mit zittriger, bittersüß gefärbter Stimme; sie spiegelt gut die dunkle Ahnung von Vergänglichkeit und Tod, die den lebenstrunkenen Versen stets eingewoben ist. Dieser Dichter wusste: „Nur der, der lebt, lebt angenehm.“ Exmusiker der Gruppe Ougenweide legen den saftigen Texten mit vorwiegend akustischem Instrumentarium behutsam ein zart-filigranes, mal verhalten rhythmisches, mal statisch ruhendes Klanggewand um. Diese Hommage an den poete maudit, an den Mörder, Dieb und Verseschmied Villon, der 32-jährig auf Nimmerwiedersehn verschwand, ist ein wundersames Kleinod. Villon, hätte er Ende der 60er-Jahre unseres Jahrhunderts gelebt, er wäre ein Kultstar geworden, einer jener faszinierenden, lasterhaften Exzentriker, berüchtigt für Drogenexzesse, wilde Schlägereien und demolierte Hotelzimmer.

      Cusco

      „Water Storys” (1991)

      Es ist an der Zeit, gegen den entsetzlich glitschigen, klebrig-süßen, hirn- und hörgangverkleisternden, reaktionär harmlos „schönen“, übelkeitserregenden Synthieschleim zu wettern, den Cusco seit nunmehr werweißwie vielen CDs absondert. In Japan fahren sie voll ab auf den seichten Schmuh, in den Billboard-New-Age-Charts taucht er auf, aber hierzuland wollen wir, bittschön, verschont werden davon. Hinter dem unsäglich substanzlosen Geseiere steckt übrigens Exschnulzenheini Michael Holm, manchen noch in Erinnerung als vergebens nach dem Mädchen aus „Mendocino“ suchend. Such weiter, Michael. Sing Schlager.

      Die Lassie Singers

      „… helfen Dir” (1991)

      Okay, setzt Jonathan Richman in eine Zeitmaschine, gabelt bei einem Zwischenstopp in 1980 Nena und die Doraus auf, reist zurück in die 50er, sucht nach Connie Francis und bringt sie dazu, zu Jonathans Musik loszuträllern, im Chor mit Nena und den Doraus. Teenielieder im Geist der 60er natürlich, mit pubertärem Touch, einem Hauch von Dr. Sommer und ersten Pickeln, kindlich schräg und begleitet von akustischen Gitarren, Zupfbass und holprigem Schlagwerk. Und nennt dieses genialisch-dilettantische Amalgam aus Neuer Deutscher Welle, BRAVO-Erotik, Bubblegumpop und Itsy-Bitsy-Teenie-Weenie-Honolulu-Strand-Bikini meinetwegen „Lassie Singers“. Genau: nach dem Hund. Einem Collie. Und wisst ihr, was dann passiert? Die Platte wird Scheibe des Sommers. Und nicht nur, weil die Lassies (übrigens aus Berlin) endlich die Frage beantworten, warum nette Mädchen niemals glücklich werden können. Weil sie sich nämlich immer nur in wilde Kerls verlieben. Darum.

      Die Toten Hosen

      „Learning English Lesson One” (1991)

      Wisst Ihr noch, wie Mami anno 77 Zeter und Mordio schreiend die Sicherung rausriss, weil die Sex Pistols wie ein Erdbeben aus den Boxen dröhnten? Hach … – Nun, auch die Toten Hosen sind Nostalgiker, und sie haben die Punkzombies von einst wiederbelebt und die wenigen Überlebenden zum Mitpunken animiert. Herausgekommen ist das lauteste und beste Punkalbum seit „Rocket to Russia“; Joey Ramone macht den „Blitzkrieg Bop“, Johnny Thunders den letzten Seufzer (er starb kurz nach der Session), viele andere (wie die Lurkers) sind in toto dabei. Eine grandiose Reminiszenz an die Vergangenheit – Sicherungen, duckt euch!

      Edie Brickel & The New Bohemians

      „Ghost of a Dog” (1991)

      Irgendwas in Edies Stimme, man mag es mir nachsehen, erinnert mich an Nena. Manches auch an Suzanne Vega. Trotzdem hat sie ein eigenes Profil, dank origineller Texte und abwechslungsreichem Stil, der von Folkrock bis Texmex reicht. Mittendrin finden sich kostbare kleine, rein akustische Perlen, alle ultrakurz und hingehaucht, impressionistische Shortstorys, von intimem Charme und skurriler Thematik (etwa „Oak Cliff Bra“, das es durchaus aufnehmen kann mit Vegas Cafégeschichte „Tom’s Diner“). Ganz am Ende dann die krönende Einsamkeitsballade „Me by the Sea“, die so tief unter die Haut kriecht, dass man sie nie mehr los wird. Und das ist gut so.

      Edward Ka-Spel

      „Tanith and the Lion Tree” (1991)

      Ohne seine Legendary Pink Dots stößt der holländische Artrocksänger weit in bizarre Bereiche vor, doch geht ihm im Sample- und Effektegestrüpp die Stringenz verloren. Minutenlang zirpt da die Elektronik wie zu Zeiten des Mellotrons, und den manchmal wie wundersam aus dem Noise aufsteigenden, vocoderverfremdet gesungenen Melodien hätte man ein weniger zerfasertes Kleid gewünscht. Die Stücke auf „Tanith …” sollen sich wohl zur Collage fügen, doch wirken sie oft nur wie Füllsel, wie halb ausgegorene Ideen. Edward Ka-Spel, das steht fest, braucht das Korsett der Dots, um sich nicht zu verzetteln.

      Grant W. Mc Lennan

      „Watershed” (1991)

      Früher war Grant bei den Go-Betweens, für die er einige der wichtigsten Lieder geschrieben hat. Sein erstes Soloalbum glänzt denn auch mit den Stärken eines gestandenen Songwriters: großartige Melodien, nachdenkliche Texte und eine folkinspirierte Instrumentierung, die für Puristisches genauso Raum lässt wie fürs Rockige. Das selbstbewusste, optimistische Album strahlt die Gelassenheit und Ruhe einer sommerlichen Landpartie aus. Außerdem ist Grant ein einfühlsamer Interpret seiner selbst, der auch kargen, intimen Folksongs wie „Black Mule“ Gefühl und Leben einzuhauchen weiß. Eine Platte wie aus einem Guss, die an Jorma Kaukonens Meisterstück „Quah!“ erinnert.

      Happy Mondays

      „Pills’n Thrills and Bellyaches” (1991)

      Rock’n’Roll war schon immer die Musik des Proletariats – oder gebärdete sich so. Soziale Brennpunkte gebaren in Zeiten wirtschaftlicher Krise junge Rebellen, die schließlich Rockgeschichte schrieben. In den 60ern war es Liverpool, in den 70ern London, heute ist es Manchester, eine Kloake von Stadt, der in den letzten Dekaden 40 Prozent der Bevölkerung davonliefen. Die Happy Mondays, Kultstars des Rave, sind geblieben. Ihre Mischung: Sixtiesbeat, Seventiesrock und HipHop der 80er. Musik, so lange durch den Mixwolf gedreht, bis man sich dem Groove nicht mehr entziehen kann. Da vergisst man glatt, dass Frontmann Shaun Ryder ein allenfalls mittelmäßiger Sänger ist.

      Jack Nitzsche

      „The hot Spot” (1991)

      Miles goes Blues – und es klingt, als hätten beide nur auf dieses Rendezvous gewartet. Eine echte Supergroup hat sich hier zusammengefunden, um Jack Nitzsches Soundtrack musikalisches Leben einzuhauchen: neben dem Jazzkultstar Davis und seiner flirrenden, unverwechselbaren Trompete noch die Blueslegende John Lee Hooker und sein jüngerer Kollege Taj Mahal. Dazu spielt Roy Rogers eine wunderbare Slidegitarre, die an Ry Cooders träumerisch-bedrohliche Instrumentals erinnert. Seltsam nur, dass ausschließlich Scatgesang zu hören ist – als wäre das Album versehentlich als unfertige Instrumentalspur auf den Markt gerutscht.