Rodelius
„Frühling” (1992)
Der Cluster-Pionier hat schon immer einer Vorliebe für Musik aus dem Stegreif gefrönt, ohne jemals auf die Jazzschiene einzuschwenken. Dazu stehen seine kontemplativen Momentaufnahmen zu souverän über der bloßen Demonstration technischer Brillanz; es sind weit eher musikalische Stilleben, schallgewordene Blumenarrangements – und durchaus mit manch welker Blüte im Strauß, denn der Pianist und Keyboarder Roedelius ist kein Schönfärber, sondern ein Klangstilist, der Ästhetik nicht vergöttert. Das schützt davor, von der Esoterik vereinnahmt zu werden; und das schützt auch vor allzu schneller Abnutzung. Ein sprödes und sanftes Werk für Piano und wenig mehr.
Heinz-Rudolf Kunze
„Draufgänger” (1992)
Das Cover zeigt HRK x-beinig die E-Gitarre malträtieren wie weiland Chuck Berry; und wahrhaftig ist ihm ein weitgehend frisches Gitarrenrockalbum gelungen, das an intelligenter (aber nicht belehrender) Alltagslyrik einiges zu bieten hat. Kunze ist nicht mehr das für den Deutschpop, was Hans-Jochen Vogel lange für die SPD war nein, dem (gesamtdeutschen) Volk ist er nun auf der Spur, wenn er ihm auch weniger aufs Maul als ins Gemüt schaut. Nebenbei beweist er so, dass die teutonische Zunge, so sie zu singen anhebt, durchaus zu wortgewandt-flüssigem Duktus fähig ist. Vor die Wahl gestellt, zum Draufgeher oder Draufgänger zu werden, hat Kunze sich für Letzteres entschieden. Schön für ihn und uns.
James
„Seven” (1992)
Wann zuletzt im Himmel gewesen? Lange her? Macht nichts, denn per Video laden James zur Himmelfahrt, sprich: zum atmosphärischen Trip aus märchenhaften Melodien, denen eine Wand aus Gitarren, flächig-ferne Trompetenfanfaren und flockige Perkussion zum Sternenflug verhelfen. Im Hintergrund flackern bunte Hippieblumenmuster, vorn, im Büßergewand, singt Tim Booth sich inbrünstig und pathetisch die Seele aus dem Leib – eine Supergruppe des Pop, ein magisches Erlebnis des Schwebens, das erst durch die Visualisierung vollkommen wird. Bisher galten sie als die neuen Smiths, aber man muss höher greifen: James gehören zu den talentiertesten Songschmieden, die England seit den Beatles je hervorbrachte. Punkt.
Jingo DeLunch
„B.Y.E.” (1992)
Eure Silvesterfete war bestimmt nur halb so aufregend wie meine. Warum? Weil sie auf die Vorabcassette von „B.Y.E.“ verzichten musste. Diese Scheibe hat mehr Power, als das ganze depperte Neujahrsgeknalle es je haben könnte. Selten eine so kompakte Band gehört, selten einen derart druckvollen Hardrock mit Punktouch, selten eine solche Sängerin, die mal verstocktes Gör spielt und in der nächsten Millisekunde den bösartig fauchenden Gnom. Jingo DeLunch klingen, als hätte man die Spider Murphy Gang an eine Hochspannungsleitung angeschlossen. Was einzig fehlt: noch hochwertigeres Songmaterial, denn nicht alle Stücke halten den Standard des grandiosen Openers.
Michael Jackson
„Dangerous – The short Films” (1992)
Zweierlei fällt nunmehr besonders auf – zum einen: viele Kinder. Zum andern: viele Griffe zwischen die Beine. Jacksons Videos sind, bei aller Neigung zu romantisierendem Kitsch, formal brillant – kein Wunder bei Regisseuren wie Lynch oder Landis; doch die Filme schaffen es nicht, vom Subtext, von (vermeintlich) geheimen Chiffren und (vielleicht) verräterischen Details abzulenken. Kinder und Jackos Körpermitte: Das gerinnt als Doublette zum signifikanten Bild von „Dangerous“ – und jene traurige Poesie, als ihm, am Klavier sitzend, sein eigenes kindliches Ich erscheint und er in ein Duett einstimmt.
Naked City
„Torture Garden” (1992)
Der urbane Schrecken hat einen neuen Namen. Es ist der einer Platte: „Torture Garden“ von Naked City. Die Musik bricht aus wie ein Vulkan. Wenn die glühende, böse Lava aufgehört hat zu fließen, ist man jemand anderes. Die Band heißt Naked City, und das ist wörtlich zu nehmen. Aller Fassaden und Leuchtreklamen entkleidet, bliebe von den monströsen Großstädten nur das: Lärm, Gewalt und Atemlosigkeit, Folter und Qual. Es bliebe das nackte, hässliche Skelett einer Stadt. „Torture Garden“ ist die Stimme dieses Skeletts. Musik wie ein Schlachtermesser, das sich in Eingeweide wühlt, wilde Stakkati, atemlose Lärmekstasen. Darin: Oasen der Harmonie, zu kurz, um in Sicherheit zu wiegen. Das längste Stück dauert 74 Sekunden. Stellt euch vor, ihr hättet ein Fernsehen mit 700 Kanälen und einen Finger immer auf der Fernbedienung. Jede halbe Sekunde ein anderer Sender. Und stellt euch vor, ihr wärt gefesselt wie Alex in „Clockwork Orange“, dicht vorm Bildschirm und mit abgeschnittenen Augenlidern. Stellt euch das vor. So klingt „Torture Garden“. Wer zu langsam hört, so könnte John Zorns Credo lauten, der sieht zu wenig fern. „Torture Garden“ hat eine „Sado-Side“ und eine „Maso-Side“, doch man kann sie nicht unterscheiden. 21 Stücke pro Seite, 42 insgesamt – in 29 Minuten. Das kürzeste Stück ist acht Sekunden lang. John Zorn ist der Kopf von Naked City. Er bekämpft ein Altsaxofon, er ringt es nieder, lässt es schreien wie ein Tier. Alles gilt. Verboten sind einzig Tabus. In „New Jersey Scum Swamp“ werden 33 Musikstile in 41 Sekunden abgehakt. Grindcore, Country, Swing, Noise, Punk, Metal, Hardcore – alles. Ohne Overdubs. „Torture Garden“ ist die Summe aller Stile. Doch sie mischt nicht, sie stellt nebeneinander, akribisch genau. Ein universales Puzzle, dessen Teile immer passen. Wie die surrealistischen Gedichte Raymond Queneaus: Man kann sie endlos umstellen, sie reimen sich immer. Unsere Augen sind den Ohren weit voraus: Sie sind schneller, trainiert von Videoclips und Werbespots, von den wilden Schnittfolgen eines David Lynch. Naked City beschleunigt die Evolution des Hörens. „Torture Garden“ ist Avantgarde. Sie nimmt eine Fähigkeit vorweg, die unsere Ohren erst noch erlernen müssen. Die Musiker heißen Fred Frith (Bass), Wayne Horvitz (Tasten), Bill Frisell (Gitarre), Joey Baron (Drums). Sie kommen aus New York. Dort werden pro Jahr zweitausend Menschen umgebracht. Die Platte muss mit 45 Umdrehungen abgespielt werden, doch versucht es auch mit 33: Sie wird sich immer noch anhören wie ein Formel-eins-Rennen. Zorns Urschreie klingen dann tiefer, animalischer: wie King Kong, als er sterbend vom Empire State Building stürzte. Nach Douglas Adams lautet die Antwort auf alle Fragen des Universums „42“. Das Label, das „Torture Garden“ verlegt, heißt Earache. Das Cover der Platte ist in den USA verboten. Mord auch.
Nardo Ranks
„Rough Nardo Ranking” (1992)
Weil seine entnervte Mutter ihn mit dem berüchtigsten Verbrecher Jamaikas verglich, gab er sich später dessen Namen: Nardo. Ranks’ erstes Album ist jedoch weniger böse als lustig; sein unglaublich intensives, messerscharf artikuliertes und heillos egozentrisches Rapgeratter zu Reggaerhythmen könnte ihn zum neuen Kultstar des Raggamuffin befördern. Sein Zungenbrecherhit „Burrup“, ein Renner in jamaikanischen und US-Discos, findet sich denn auch in gleich mehreren Mixes auf dieser CD wieder. Ranks sollte der Wissenschaft einen Gefallen tun und ihr testamentarisch sein komplettes Lauterzeugungssystem vermachen. Das könnte die Anatomie revolutionieren.
Paul K & The Weathermen
„The Killer in the Rain” (1992)
Die Morbidität der Doors, die rohe Wildheit von Velvet Underground, die zittrige, jederzeit zur Aggression fähige Verletzlichkeit von Neil Young und die schüttere Melodik von Dinosaur Jr: Paul K hat seinen Stil offenkundig an Vorbildern geschult, um ein Meisterwerk zu schaffen. Es ist eine dunkle, bisweilen düstere Platte, durch deren dräuende Klanggewitter winselnde Gitarrenblitze zucken, die geprägt ist von Paul Ks am Rande der Panik balancierender Stimme. Irgendwo zwischen schwärzestem Folk und rohem Garagenrock hat er seine Erfüllung gefunden. Alles scheint wahr auf dieser CD, kein Ton ist falsch, keine Textzeile beschönigt. So wie diese Musik scheint das Leben selbst zu sein, und die Brücke ist geschlagen zwischen Kunst und Realität. Dieses Werk könnte für die 90er das werden, was Youngs „Tonight’s the Night“ für die 70er war: ein bitterer Abgesang, nur noch Millimeter