Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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Udo eines Tages – es war das Jahr 1978 n. Chr., und die Fußball-WM in Argentinien stand an – zum gemeinsamen Singsang mit bundesdeutschen Balltretern bat. Es kam, was kommen musste: die LP „Buenas Dias Argentina“ nämlich und damit das schnelle Aus der deutschen Elf. Zuerst traf ein Wiener (!) namens Krankl entscheidend ins deutsche Tor, daraufhin einen österreichischen TV-Reporter fast der Schlag („Dor! Dor! I werd narrisch!“) und somit die bekannte Schmach von Cordoba die ganze hiesige Fußballnation – felix Austria, dank Udo. Zwölf Jahre gingen ins Land, in denen sich unser Fußball von Jürgens niemals ganz erholte. Weltmeister wurden immer die anderen, es reichte höchstens mal zum Vize – immerhin. Aber jetzt, man glaubt es kaum, haben sie ihn wieder aufgestellt (oh, deutsches Gedächtnis …!) „Sempre Roma“ heißt sein neuer Anschlag auf unseren Lieblingssport. Und Udo macht seine Sache wahrlich wieder gründlich. Mit einer Häme ohnegleichen lässt er da die Halbgötter in Shorts zu seichter Supermarktmucke etwas singen, das der Spiegel beschönigend „sinnarmes Geträller“ nennt, in Wahrheit aber auf schwachsinniges Kalauertum hinausläuft. Und das Schlimmste: Die offenbar nur hüftabwärts starken Männer scheinen es nicht zu merken. Ein Beispiel? Bitte sehr: „Der Teufel hat den Straps gemacht/um Spieler zu verführen.“ Das wird auf dieser Platte gesungen, ernsthaft. Von Möller und Mill, von Reuter und Riedle; selbst Klinsmann schämt sich nicht. Verballhornungen wie „Trainer lügen nicht“ oder „Wenn es kracht, Signorina“ folgen stante pede. Selbst Handke kriegt den Kasten voll mit „Die Angst des Schützen vorm Elfmeter“. Alles Hirnkleister, um unsere Jungs mental lahmzulegen, damit sie die Taktik nicht mehr kapieren und wieder gegen Österreich verlieren – und der tumbe Teamchef tut mit, statt den Saboteur umzugrätschen. Am Prater kann man den Sekt schon mal kaltstellen: Nach dieser Platte reicht es für uns wohl nur zum Viertelfinale. Arrividerci Roma. Unseren Kickern, deren chorähnliches Trachten ein verdienstvoller Tonmeister wenigstens gnädig ins akustische Abseits mischte, bleibt nach dem absehbaren Flop nur ein Trost: Italien bietet, Udos Primanerlyrik zufolge, viel mehr als Fußball, nämlich „Spiele am Strand/Mädchen zur Hand.“ Das wird auf dieser Platte gesungen. Ernsthaft.

      Verschiedene Künstler

      „Erdenklang Music Vol. 11” (1990)

      Instrumentalmusik gibt sich heute, im heilsversprechenden „New Age” des Wassermanns, gern esoterisch. Den Computern scheint konservative Musik zu entströmen, sie scheinen trotz eines vor die Hunde gehenden Planeten ungerührt Innenschau zu predigen. Vorwürfe, die Ulrich Rützel, Chef des Hamburger Erdenklang-Labels, in die Defensive drängen. Er flüchtet nach vorn. Die Spreu, sagt er (und meint „musikalische Stangenware mit pseudo-meditativer Attitüde"), habe sich längst vom Weizen getrennt; und das Bedürfnis nach Entspannung durch Musik hält er angesichts einer komplexen, vom Ökokollaps bedrohten Welt ohnehin für legitim. So steht’s im Vorwort seines Labelkataloges, der einer neuen Sampler-CD beiliegt: „Erdenklang Music Vol. 11“. Das Spektrum, etikettiert als „Neue Instrumentalmusik“, ist überaus breit. Es finden sich die Pioniere des Fairlight-Computers, die leichthändigen Gitarrenläufe Erlend Krausers, Achim Gieselers nervös-urbane Klänge oder fiebrige Perkussionsexkursionen der indophilen Formation Tri Atma. 15 Interpreten, fast ebenso viele Konzepte; doch bemühen sich alle um die Verquickung elektronischer und natürlicher Klänge zu „computerakustischer” Musik – wie auch Gerd Bessler, dessen Geige als durchaus humorvolle Versöhnung eines alten Instruments mit modernster Klangtechnologie klar und hell über elektronischen Soundteppichen thront. Wenn denn schließlich überhaupt vorläufig Gemeingültiges zu destillieren wäre aus dieser kleinen Auswahl, so dies: „Neue Instrumentalmusik“ gibt sich gefällig, kokettiert mit Pop und Rock, hält akustische Ergänzung für unverzichtbar, hütet sich panisch vor Dissonanzen und läuft stets Gefahr, vor lauter Harmonie in einlullendem, leicht konsumierbarem Schönklang zu erstarren. Die Perfektion moderner Synthesizer entbindet offenbar noch nicht von schöpferischer, melodischer Fantasie – sie macht ihr Fehlen gar um so schmerzlicher bewußt. „You have to have melody“, weiß Ulrich Rützel zwar und meint sicherlich ein Konzept, das kompositorische Qualität hochhält und den Computer als Werkzeug ihrer Umsetzung begreift – doch den Vorwurf der Weltflucht, der Schaffung schöner neuer Klangwelten, entkräftet dies nicht. So könnte ein reflektierender Umgang mit dieser Musik vielleicht jener sein: den esoterischen Ballast ignorieren, ihre manchmal reine Schönheit genießen – und dennoch das hässliche Außen im Blick behalten. Schwierig, doch es könnte gelingen.

      Verschiedene Künstler

      „Music for the 90’s – Volume 2” (1990)

      Bravo, Rough Trade! So lieben wir’s: massenhaft gute Musik und das für wenig Geld. Der Sampler liefert einen sorgfältig ausgewählten Querschnitt des aktuellen Labelrepertoires – ein buntes, 20 Titel umspannendes Spektrum, das mit House und Rave anfängt, bei melodiösem Gitarrenpop länger verweilt, mit Souled American einen Hauch von Country verbreitet, Neopsychedelia streift und auch Exoten wie Momus und die Einstürzenden Neubauten aufzubieten hat. Für Partys genauso geeignet wie für einsame Abende im Reich des Kopfhörers. Charmant auch die Bescheidenheit des ansonsten wahrheitsgetreuen Booklets, das 70 Minuten Musik ankündigt, obwohl es glatte sechs mehr sind. Als Einstieg empfiehlt sich „Rave on (Club Mix)“ der Happy Mondays – ein rechter Muntermacher, vor allem nach allzu langen Nächten.

      Vox

      „Diadema” (1990)

      Hildegard von Bingen, eine mittelalterliche Mystikerin, hat einen umfangreichen Fundus an Schriften und Kompositionen hinterlassen. Die deutsch-italienisch-amerikanische Gruppe Vox hat den Versuch unternommen, die voluminösen Melodiebögen Hildegards authentisch wiederzubeleben – mit größtem Erfolg. Drei Frauenstimmen, uralte Instrumente und behutsame Elektronik, die dramatische Akzente setzt, ohne auf Effekte aus zu sein: Das sind die Ingredienzen einer faszinierenden CD, die einige Assoziationen an Eberhard Schoeners „Trance formation“ weckt, in ihrem ernsthaften Bemühen um kongeniale Adaption gregorianischer Musik jedoch weit darüber hinausgeht.

      1991

      „Es kann passieren, dass man diesen Soundtrack zwanghaft dreimal in Folge auflegen muss. Keine Vermutung: Erfahrung.“

      aus der Rezension zu „The sheltering Sky“ von Ryuichi Sakamoto

      Al Di Meola

      „World Sinfonia” (1991)

      Al war früher ein Gitarrist, dessen Up-Tempo-Saitengewichse immer dann schrecklich anödete, wenn er sich in der eigenen Virtuosität suhlte und das Wesentliche vergaß: Emotion. Das geschah allzu oft. „World Sinfonia“, ein Gruppenprojekt, steht nun für Meolas diesbezügliches Aha-Erlebnis, was nicht nur in der Widmung an den Bandoneon-Meister Piazzolla zum Ausdruck kommt. Meola hat die Latino-Gefühlswelt für sich entdeckt und, was noch wichtiger ist, sie nachempfunden und behutsam (!) adaptiert. Mit Hilfe von Leuten wie Dino Saluzzi freilich, der das noch immer von selbstverliebten Technizismen nicht völlig freie Spiel Di Meolas mit warmen Bandoneonklängen kontrastiert. Eine furiose, brillant abgemischte Nord-Süd-Fusion. Und 63 Minuten lang.

      Chris & Cosey

      „Pagan Tango” (1991)

      C & C haben die Noiseschiene bereits mit ihrer Abspaltung von Throbbing Cristle verlassen. „TG“ schockte vor zehn Jahren die halbwegs heile New-Wave-Welt mit Ekelvideos und einem Sound, der sich vom Lärm einer Autofabrik nur noch in Nuancen unterschied. Nach dem Split machten Chris & Cosey als Duo weiter, begannen der kalten industriellen Welt nunmehr eine ausgesprochen spröde Schönheit abzugewinnen. „Pagan Tango“ wartet jetzt mit den bezauberndsten Technogrooves auf, die sie je zustandebrachten. Alle Wärme wurde der Musik rigoros ausgetrieben. Cosey haucht im Sprechgesang postmoderne Depressionen, Chris sorgt für die eiskalte Synthiebasis. Manchmal brechen zerbrechlich-zarte Melodien die tanzbare Monotonie der computerisierten Fließbandklänge auf. Eine Platte mit dem Charme einer Tiefkühltruhe, geeignet zur Berieselung von Robotern, die in den menschenleeren Fabriken der Zukunft