Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken


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Perspektive. Als Mike Leander, der ihre ersten Hits produziert hatte, sie wieder ins Studio schleppte, schien das Zeitverschwendung. Das sah die Plattenfirma ähnlich und legte das Album auf Eis. Noch immer ist zu hören, wie die Faithfull darum kämpft, wach zu bleiben. Ihr fahler Gesang treibt hilflos in einem halbelektrischen Folksetting, und das gibt den gecoverten Dylan-, Hardin- oder Stevens-Songs etwas eigentümlich Intensives. 1976 ging es ihr besser, doch die Musik war langweiliger Mainstream. Beide bis dato nie komplett veröffentlichte Alben gibt es nun auf dieser CD, dem ersten Teil einer Serie. Eine Entdeckung, im Guten wie im Schlechten.

      Marque

      „Freedomland” (2000)

      Sein 1997er-Album „Fonkononia“ gehört zu den Kleinoden des Funkpop. Sogar Gitarrenepen hatte der Österreicher drauf. Ein Prince aus den Alpen, der unerklärlicherweise kein Gehör beim breiten Publikum fand. „Falsches Timing“, zuckt Marque heute gelassen mit den Schultern. Ist das Timing diesmal besser? Sein Album jedenfalls bietet, pompös abgeschmeckt, alle Stärken des modernen Funkpops – vielleicht sogar ein paar zu viel: Manchmal wallen die Synthies zu heftig, manchmal stört die Verzigfachung der Gesangsspur. Denn die Musik dieses Songwriters, Sängers und Multiinstrumentalisten muss sich gar nicht derart blähen; sie hätte auch abgespeckt genug Reize und Hooklines. Und wenn sein Gesang in der Tiefe des Raums von hektischen Zischelbeats umspielt wird wie in „Shiva – God“, denkt man wie hypnotisiert übers Konvertieren nach, zumindest kurz. Gutes Timing.

      Martin Reichold (Hg.)

      „Preiskatalog Rock & Pop 2000” (2000)

      Wer hätte gedacht, dass meine olle 71er Chris-Andrews-Single „Seltsam sind die Wege der Liebe“ 27,10 Mark wert ist? Einer wusste es: der Preiskatalog Rock & Pop, das angeblich weltweit größte Nachschlagewerk für Plattensammler. Die zwei Bände (einer für Singles, einer für Alben) haben sich zur Bibel der Vinylfreaks entwickelt. Selbst wenn man seine Schätze nie verkaufen will: In köstlichen Stöberstunden kann man hier ihren in Auktionen der Zeitschrift Oldie-Markt festgestellten Wert ermitteln, sich Fotos von Raritäten anschauen oder das Fachvokabular der Sammler pauken. „Fair“ zum Beispiel klingt ja ganz ansprechend, bedeutet aber: die Platte ist in erbärmlicher Verfassung. Alle Preise beziehen sich denn auch auf den Topzustand. Schlecht fürs Preispotenzial meiner Andrews-Single …

      Mary Schneider

      „Yodelling the Classics” (2000)

      Es gab mal einen Japaner, der in Krachlederner im Musikantenstadl auftrat, zur Gaudi der Fans von Maria Hellwig. Mary Schneider, eine betagte Australierin mit Kneifzangenlächeln und einem Ballkleidgeschmack, der sich erschütternd eng an einer Rocky-Horror-Version von „Vom Winde verweht“ orientiert, gehört ins gleiche Kuriositätenkabinett. Sie jodelt. Aber nicht etwa das „Kufstein-Lied“, nein: Rossini, Brahms und Mozart. Hippe Frauenzeitschriften würden das schrill nennen, also tun wir’s auch. Denn es ist echt und ehrlich schrill, wenn „Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein“ zu einem Judeldidödeldido mutiert, während das Sydney International Orchestra unter Tommy Tycho ungerührt so spielt, als jodelte Mary gar nicht, sondern sänge. Trash, der auf einer Kellerparty bei Loriot wahrscheinlich bestens ankommt.

      Melanie B

      „Hot” (2000)

      Komisch: ein verhaltener Beginn. Kein Saus und Braus, wie es zu vermuten war von einem auf Glamour und Chuzpe festgelegten Spice Girl. Der mittelmäßige Opener „Feels so good“ jedenfalls ist von einer Transparenz und Unaufdringlichkeit, als fühlte sie sich wirklich wohl in ihrer Haut, die zur Melanie gewachsene Mel B. Es geht betulich weiter, und irgendwann wird schmerzlich klar: Diesem Album fehlt alles, was die Spice Girls groß machte – Verve, Power, Tempo. Plinkersoulpop mit Hupfdohlenchorsätzen, müde, verhalten, weder hot noch cool, sondern lauwarm. Nur bei „Step inside“ fängt das Plinkern an zu perlen, nur hier geht die Seichtheit über in eine mit Latinprisen abgeschmeckte Leichtigkeit, die guten Chartspop auszeichnet.

      Michael J. Sheehy

      „Sweet blue Gene” (2000)

      Es war einmal ein Sänger, den seine Arbeit bei einer zwar in Fachkreisen geschätzten, jedoch nur mäßig erfolgreichen Band namens Dream City Film Club nicht ausfüllte. Und wegen des mäßigen Erfolgs hatte der Sänger auch keine Mittel, sein Solowerk zu realisieren. „Ich habe mich bei Freunden verschuldet, um dieses Album produzieren zu können“, sagt Michael Sheehy, und seine Freunde werden sicher berührt und bewegt sein von der Stille, Konzentration und streichergetragenen Würde dieser Songs, doch um ihr Geld wird ihnen sicherlich ein wenig bange werden. Solche Musik spielen zwar Freie Senderkombinate rücksichtslos tagsüber, aber kein anderer Sender selbst nachts nicht, zu schweigen von MTV und Viva. Ein zauberhaft trauriges, verhuscht produziertes Album für Nachtschwärmer und all jene, die schon immer mal hören wollten, wie es klingen könnte, wenn Tim Hardin und Peter Green gemeinsam den Blues haben.

      Michel Petrucciani

      „3 Concerts inédits” (2000)

      Eine bestechende Idee: Verdiente Jazzer bekommen vom Dreyfus-Label ihre ganz spezielle Livedreierbox. Auf der ersten CD spielen sie solo, auf der zweiten im Duett und auf der dritten, Sie ahnen es, im Trio. Ein Konzept, das Kreativität, Virtuosität und nicht zuletzt Teamfähigkeit der Geadelten nachspürt. Der kleine Gigant Michel Petrucciani weiß auf allen Feldern zu überzeugen. Obwohl er halb auf den Schemel steigen muss, um die Tastatur in ganzer Breite nutzen zu können, hören wir nichts von diesem Handicap – im Gegenteil: Den perlenden Fluss seiner Läufe kriegen die meisten Langarme im Jazz nicht so hin. Dreyfus plant eine ganze Serie mit diesem Konzept; die Box des Akkordeonisten Richard Galliano ist bereits erschienen. Alle Aufnahmen sind unveröffentlicht, haben entsprechenden Sammlerwert und werden um ein 32seitiges Booklet ergänzt.

      Miles

      „Miles” (2000)

      „Irgendwann ist es nicht mehr interessant, die tausendste Gitarrenband zu sein“, dämmerte den Würzburgern, und sie ließen die Klampfen auch mal weg. Nun ist es bei weitem nicht immer interessant, wenn eine Gitarrenband plötzlich nicht mehr die tausendste sein will, weil es ja bisher gute Gründe für ihr bisheriges Dasein gab – zum Beispiel den, dass man von Elektronik keinen Dunst hat. Miles aber haben Ambitionen, halten Ausschau und sehen am Horizont die Silhouette von Phil Spector oder einer anderen Metapher für vollfetten Pop, der sich türmt und türmt. Und siehe da: Im Aufschichten sind sie talentiert, im liebevollen Rückblick auf die 60er auch; und manchmal klingen sie wie die Turtles nach einem Zeitsprung in die 90er. Eine Band also auf dem Sprung zur Größe? Jedenfalls nicht mehr die tausendste Gitarrenband.

      Mirwais

      „Production” (2000)

      Mirwais ähnelt Madonnas Exlover Sean Penn, und auf einem Stück singt wer mit? Madonna. Die Welt ist seltsam und klein. Mirwais Ahmadzal: Das ist italo-afghanisch, doch der 39-jährige lebt in Paris. Erst hatte er die Coverfarbe für sein Album – ein augenbetäubendes Pink –, dann erst die Musik. Die beginnt wie aus dem Bombentrichter: als zappenduster pumpender House, der durchzischt wird von Granatsplittern. Soundideen hat Mirwais en masse. Da kippt ein Elektrowave ins Akustische, ehe er einen vocodergestützten Refrain aus den Stimmbändern zaubert, der einem nachhängt. „I’m living in a happy world“, robotert er im „Naïve Song“ – ein Gefühl, das sich nach dem sicheren Erfolg seines fantastisch (selbst)produzierten Debüts noch verstärken dürfte. Aber am wenigsten dank Madonna.

      Mojave 3

      „Excuses for Travellers” (2000)

      Nicht vergessen: Mojave 3, formiert aus den Überbleibseln der Shoegazeband Slowdive, sind Briten. Denn zu unbritisch, zu uramerikanisch sind ihre Stilmittel, zu wenig regenverhangen und doch tiefmelancholisch