wenn ich den Salon betrete. Ich kann an ihren Gesichtern gleich ablesen, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie kommen fast um vor Neugierde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie säuerlich sie reagieren, wenn ich mir den Wandschirm aufstellen lasse.« Für einen kurzen Augenblick huschte ein verächtlicher Ausdruck über ihr Gesicht. »Wenn sie käufliche Ware sehen wollen, dann sollen sie sich doch einfach den Straßenstrich anschauen. Aber dafür reicht ihr Mut dann wohl am Ende nicht aus … Vielleicht ist es ja auch ihre heimliche Angst, den eigenen Göttergatten dort anzutreffen.« Chloe ließ ein angenehmes, aber herablassendes Lachen hören.
Tamora wollte etwas erwidern, wurde aber schon im Ansatz unterbrochen, denn in diesem Augenblick betrat eine von Mays Angestellten die Kabine. »Ich müsste jetzt die Haare ausspülen«, stellte die Mitarbeiterin freundlich fest.
»Nur zu«, entgegnete Chloe knapp.
Tamora erhob sich, schob ihren Stuhl ein wenig beiseite und blieb in der Nähe stehen. Sie ließ Chloe nicht aus den Augen und überlegte, was so Seltsames, so Anziehendes an ihr war. Wenn Sie nicht gewusst hätte, dass hier eine Prostituierte vor ihr saß, sie würde Chloe für eine moderne, erfolgreiche und aufgeschlossene junge Frau gehalten haben. Da war etwas an ihr, das sie im Augenblick nicht zu beschreiben verstand. Verwundert darüber fragte sich Tamora, ob das einfach an ihrem Wissen lag, dass sie dem horizontalen Gewerbe nachging.
Aber auch Chloe betrachtete sie neugierig.
Tamora war völlig in ihre Gedanken versunken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Mays Angestellte mit dem Auswaschen der Haare schon fertig geworden war. Chloe musste sie schon eine Weile beobachtet haben.
»Wie lange dauert das denn noch?«, pflaumte sie die rothaarige Friseurin an.
»Eine knappe Stunde. Sie wissen das doch.«
Unzufrieden über die Antwort rümpfte sie die Nase.
Tamora wusste, dass Chloe gleich unter die Trockenhaube kommen würde, was eine vernünftige Unterhaltung ziemlich unmöglich machte.
Dasselbe schien auch ihr Gegenüber gedacht zu haben. »Du interessierst mich«, sagte sie plötzlich frei heraus.
Tamora war aufgefallen, dass Chloe alle sehr vertraulich anredete, aber es störte sie nicht im Mindesten. »Ja? … Das freut mich.«
»Wir sollten uns einmal näher über dein Projekt unterhalten. Vielleicht kann ich ja tatsächlich etwas dazu beitragen.«
Tamora lachte unwillkürlich. Du scheinst den Spieß umdrehen zu wollen, dachte sie. So habe ich mir das aber nicht vorgestellt.
Chloe warf einen beiläufigen Blick auf die kostbare Armbanduhr, die ihr zartes Handgelenk schmückte.
»Hör mal: wenn ich hier fertig bin, dann setzen wir uns zusammen. Einverstanden?«
Tamora überlegte kurz.
»Ah, du traust dich anscheinend nicht so recht, wie?«, schmunzelte Chloe, als sie nicht direkt zustimmte.
»Das ist es nicht. Ich bin gerade gedanklich meinen Terminplan durchgegangen und habe überlegt, ob ich heute noch so viel Zeit habe. Der Anruf meiner Freundin kam sehr überraschend.«
»Na, dann überlege du mal in aller Ruhe. Ich bin ja noch ein gutes Weilchen hier.«
*
Tamora verließ die Kabine und lief im Salon ein wenig auf und ab, bis May wieder zum Vorschein kam.
»Und? … Hast du schon etwas in Erfahrung bringen können?«, erkundigte sich May bei ihrer Freundin und sah sie neugierig an.
»Nein, noch nichts. Dafür ist es auch viel zu früh. Es braucht schlicht mehr Zeit, … auch um miteinander warm zu werden.«
»Ach, wie schade«, seufzte May. »Dann hast du dir den Weg also ganz umsonst gemacht?«
»Nein. Chloe will nachher noch mit mir reden.«
»Hier im Salon?«, fragte ihre Freundin erstaunt.
»Ganz bestimmt nicht«, lachte Tamora. »Da wird es schon eine andere Möglichkeit geben. Es interessiert mich ja wirklich, was sie zu sagen hat. Bestimmt hat sie eine Menge zu erzählen und ich habe natürlich irre viele Fragen. Wann hat man schon einmal die Möglichkeit alles aus erster Hand zu erfahren?«
»Meinst du? Ich dachte immer, darüber sei alles im Internet nachzulesen. Inzwischen haben einige der Mädchen doch sogar schon ihre Lebensbeichten veröffentlicht.«
»Stimmt, … aber direkt von der Quelle ist das eben doch was anderes«, beharrte Tamora.
»Hast du denn überhaupt soviel Zeit?«, wollte May wissen.
»Zeit oder nicht Zeit, ja, das ist die Frage«, verulkte Tamora ein Shakespeare-Zitat und schmunzelte. »In diesem Fall muss ich mir die Zeit einfach nehmen und ich nehme sie mir gern. Eine Chance wie diese kommt nicht so schnell wieder. Außerdem scheint mir unter ihrer rauen Schale eine ganz sensible Frau zu stecken, die es nicht leicht im Leben hatte.«
»Na, dann trinken wir oben solange noch einen Kaffee und quatschen etwas«, meinte May und legte Tamora freundschaftlich einen Arm um die Hüfte.
»Okay. Ich sage ihr nur schnell Bescheid.« Sie löste sich aus der Umarmung und huschte am Sichtschutz vorbei in die Kabine zurück.
Chloe hatte jetzt einen feuchten Wuschelkopf und sah irgendwie lustig aus. »Sieht irre gut aus, oder? Echt der letzte Schrei! Da braucht es gar nicht mehr viel, … nur noch etwas schneiden«, grinste die Prostituierte sie an.
»Mir würde das sicher nicht stehen«, meinte Tamora lachend.
»Und warum nicht? Du hast doch schönes langes Haar … Man muss schließlich alles Mal ausprobieren. Und, … wie sieht es mit dir aus?«
»Ich habe Zeit und bin pünktlich zur Stelle«, bestätigte sie lächelnd.
»Na, also! Das nenne ich ein Wort!«
Tamora lächelte ihr noch einmal zu und verschwand dann mit May wieder eine Etage höher.
Als eine halbe Stunde später Mays Kinder nach Hause kamen, konnte sie mit ihrer Freundin kein offenes Gespräch mehr führen. Ihr war das sogar recht, denn sie wollte noch einmal gründlich die Fragen durchgehen, die sie Chloe zu stellen gedachte.
So verging die Zeit viel schneller, als sie erwartet hatte.
***
Kapitel 3
Der hausinterne Anschluss klingelte. May nahm den Anruf an. Gleich darauf drehte sie sich zu Tamora um und sagte: »Chloe ist fertig. «
»Na, dann will ich mal zur ihr hinuntergehen.« Sie griff nach ihrer Handtasche und verabschiedete sich noch von den Kindern.
»Ich wünsche dir viel Spaß«, grinste May.
»Danke. Werde ich haben.«
*
Tamora fand Chloe wartend vor dem Friseursalon. Sie betrachtete sie und musste sich eingestehen, dass sie umwerfend aussah. Sie trug ein dunkelblaues tailliertes Kleid von Armani in Minilänge. Es war schlicht, dafür aber äußerst elegant und schien wie für sie gemacht. Hinzu kam ein kurzes passendes Jäckchen und Pumps in gleicher Farbe. Ihr Make-Up war ebenso dezent, wie die schlichte Halskette und die Ohrringe. Alles in allem machte sie mit ihrer unauffälligen Handtasche den Eindruck einer erfolgreichen Geschäftsfrau.
»Ist May deine Freundin?«, erkundigte Chloe sich wie beiläufig.
»Ja. Wir kennen uns schon eine gefühlte Ewigkeit«, erwiderte sie und erblickte das knallrote Mercedes-Cabriolet.
»Na, dann fahr mal mit deinem Wagen hinterher«, meinte Chloe und sah sie grinsend an.
Tamora nickte sprachlos.
*