Thomas Riedel

Tamora - Im Sumpf des Lasters


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gleich damit anfangen.« Sie lächelte Tamora herausfordernd an. »Aber … ich will im Gegenzug auch etwas von dir wissen, klar?«

      Tamora erwiderte ihr Lächeln und setzte sich in den freien Sessel.

      »Ich mache es dir leicht«, fing Violett an und nippte einmal kurz an dem noch sehr heißen Tee. »Um mal mit meinen Eltern anzufangen: Nein, die sind noch nicht tot. Das wäre mir wohl kaum entgangen. Allerdings bin ich nicht so blond ihnen meine Adresse zu geben. Die würden wie Schmarotzer meine Wohnung belagern. Mein Vater ist Alkoholiker, … laufend betrunken, und das Milieu, in dem er lebt, kannst du dir ja ausmalen.« Sie warf Tamora einen forschenden Blick zu. »Das passt vermutlich genau in dein Bild, oder?«

      Tamora zuckte unbeholfen die Achseln.

      »Wie auch immer«, fuhr Violett direkt fort. »Es ist ja nicht nur mein Vater, der säuft, meine Mutter tut es ihm gleich. Und natürlich gehen beide auch nicht arbeiten. Sie lassen sich von der Fürsorge aushalten.« Sie strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So wollte ich nicht leben und deshalb habe ich mich zeitig auf die Socken gemacht. Kannst du das verstehen?«

      Tamora nickte. »Waren deine Eltern denn schon immer so?«, wollte sie wissen.

      Violett schüttelte ihre langes rotes Engelshaar. Sie hatte ihre wohlgeformten Beine jetzt auf dem Sofa ausgestreckt und lehnte sich entspannt gegen das Polster. Offensichtlich machte es ihr nichts aus, dass ihr teures Kleid dabei zerknautschte und Tamora einen recht freizügigen Einblick gewährte.

      »Nein. Sie haben nicht immer in einer Absteige am Rande der Gesellschaft gelebt. Inzwischen ist die Wohngegend zu einem echten Getto verkommen, wo keiner mehr rauskommt und erst recht keiner hinwill. Wer dort einmal gelandet ist, wird von der Allgemeinheit vergessen. Und verdammt, niemand sollte jemanden vergessen … keiner sollte das!«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Im Leben kann jeder abstürzen, aus welchem Grund auch immer, und viele schaffen es eben nicht aus eigener Kraft wieder auf die Füße zu kommen!« Violett hatte sich so darüber erregt, dass sie eine Weile kein Wort mehr herausbrachte. Sie erhob sich, ging zur Anrichte, holte Zigaretten aus einer Schublade hervor und bot Tamora eine an, die dankend ablehnte. »Meine Eltern waren einfach zu schwach. Mein Vater ist gelernter Schlosser und meine Mutter, … die wollte immer hoch hinaus. War schon ein echter Spleen bei ihr. Ich kann das vielleicht schlecht erklären, aber sie strebte einfach nach mehr, … mehr als eben erreichbar für sie war«, erzählte Violett. »Ihr ging es immer darum mehr als die Nachbarn, Freunde und Verwandten zu haben. Mein Vater muss sich dafür tot geschuftet haben, um all ihre Wünsche zu befriedigen. Vielleicht wäre ja auch alles gut gegangen, aber plötzlich kamen sie nicht mehr klar, und dann passte auch so einiges Anderes nicht mehr in den Rahmen.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und klopfte etwas Asche ab. »Sie konnten nämlich den Kindersegen nicht verhindern.«

      Tamora schaffte es nicht sich ein leichtes Schmunzeln zu verkneifen.

      »Ja, da schmunzelst du, aber das stimmt wirklich. Das Thema Verhütung haben die beiden anscheinend nie richtig verstanden, dafür waren sie offensichtlich zu doof. Keine Ahnung, was daran so kompliziert ist.« Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und versuchte den Rauch zu einem Kringel zu formen. »Als sie dann vier von uns hatten, reichte das Geld vorn und hinten nicht mehr. Sie begannen auf Raten zu kaufen, kamen ihren Verpflichtungen nicht mehr nach und nahmen Nebenjobs an. Hat aber alles nichts gebracht. Mein Vater zog sich von der Familie zurück, reagierte ansonsten recht aggressiv und wir Kinder hatten nie einen Penny Taschengeld. Wer Geld von ihm zu bekommen hatte, ließ direkt pfänden. Das hat ihn fix und fertig gemacht. Tja, … und dann fing er eines Tages mit dem Trinken an. In gewisser Weise kann ich ihn sogar verstehen. Er hat sich sein Leben ganz sicher auch anders vorgestellt.« Violett drückte ihre Zigarette aus und nahm einen Schluck Tee. Dann fuhr sie fort und erzählte Tamora, wie sich die Trinkerei ihres Vater zunehmend verschlimmert hatte und von den immer häufigeren, handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen ihm und ihrer Mutter. Erst noch im Haus, vor den Blicken der Nachbarschaft verborgen, später dann sogar in aller Öffentlichkeit auf der Straße. Irgendwann war es zur Kündigung der Wohnung gekommen, weil sich die Mietrückstände zu einer beachtlichen Summe aufgetürmt hatten. Niemand hatte Mitgefühl für die abgewirtschaftete Familie mit vier Kindern gezeigt, deren Mutter zu diesem Zeitpunkt obendrein in anderen Umständen war. Ihre Stimme hatte einen traurigen und verbitterten Klang angenommen. »Man hat uns daraufhin irgendwo untergebracht. Damit hatte der endgültige Abstieg begonnen, in eine Sackgasse, aus der es keine Rückkehr mehr gab, weil sich niemand wirklich die Mühe machte, die Ärmel hochzukrempeln, um bei einer Schuldensanierung oder Ähnlichem zu helfen.« Sie griff erneut zu den Zigaretten. »Vielleicht hätten es meine Eltern noch schaffen können«, sagte sie leise, »aber nichts passierte … Mir selbst wurde die Kindheit gestohlen. Ich musste die Verantwortung für meine jüngeren Geschwister übernehmen. Zeit für Schule und Hausaufgaben hat es kaum gegeben. Mit dem Abstieg musste ich auch die Schule wechseln. Glaube nur nicht, dass ich dort Anschluss gefunden hätte. Ganz im Gegenteil … ich war den Übergriffen meiner Mitschüler ausgesetzt.« Ihre Stimme bebte ein wenig, als sie eingestand, dass sie insbesondere die psychische Gewalt als extrem schlimm empfunden hatte. »All, das kümmert mich schon lange nicht mehr«, erklärte sie und ihre Stimme hatte wieder einen festen Klang. »Ich will dir was sagen: Wenn ich lese, dass man Kinder heute laufend zu Psychologen schleppt, weil sie sonst einen Schaden für das Leben davontragen könnten, dann frage ich mich, warum für mich nie einer dagewesen ist?« Sie nahm einen Schluck Tee. »Bei uns hieß es nur, zeig endlich mal Ellenbogen, fang an dich zu wehren. Nicht gerade einfach für ein Mädchen, meinst du nicht auch? Und wenn man nicht fein mit der Meute heulte, dann war man gleich der Außenseiter. Man wurde förmlich dazu gemacht. … Nur immer schön Pfötchen geben, alles mitmachen, dann war man für die anderen in Ordnung. Dann waren sie stolz auf dich. Aber in Wirklichkeit waren es doch alles nur Schleimscheißer, Drückeberger, die längst ihr Rückgrat verloren hatten.« Inzwischen hatte sie aufgeraucht und drückte den Stummel ihrer Zigarette im Aschenbecher aus. »Es kotzt mich einfach an, wenn ich das höre.«

      »Und was hast du gemacht?«, fragte Tamora.

      »Ich habe natürlich aufgemuckt! Habe geschrien und gefragt, wie ich das alles unter einen Hut bekommen soll? Das mit meinen Geschwistern, die mich gehasst haben, weil ich Mutter und Vater ersetzen sollte, oder mit meinen Eltern, die mich zum Diebstahl angehalten haben! Meinem damaligen Lehrer ist förmlich die Kinnlade heruntergefallen!« Sie lächelte gequält. »Gleich am nächsten Tag kamen auch schon Beschwerden … Ja, du hörst richtig … man beschwerte sich über mich! Anstatt, dass sich der Lehrer mal Gedanken gemacht hätte, wie er mir helfen könnte, hat er sich an meine Eltern gewandt: ich sei für die Klasse untragbar geworden und würde die Atmosphäre vergiften!« Violett hatte sich aufgesetzt und goss sich etwas Tee nach. »Tja, so ist das eben mit der Chancengleichheit! Ich wurde zum Prinzipal gerufen und es wurde mir nahegelegt die Schule zu verlassen.« Violett lächelte Tamora an, griff ein weiteres Mal zum Päckchen Zigaretten und zündete sich erneut eine an. Ein verbittertes Lachen kam ihr über die Lippen. Es war unverkennbar, wie sehr sie die Erinnerungen an ihre Vergangenheit aufwühlten. »Schulpflicht!«, meinte sie bissig. »Den Gefallen habe ich ihnen aber nicht getan. Ich sollte die Schule abbrechen. Gehustet habe ich denen was! Jeden Tag bin ich brav hingegangen, obwohl mich mein Vater deswegen regelmäßig geprügelt hat, denn der wollte, dass ich arbeiten gehe, um die Familie zu unterstützen. Ich sollte putzen oder als Packerin ans Fließband.«

      Tamora nahm einen Schluck von ihrem Tee. Einerseits wollte sie Violett einige Fragen stellen, andererseits aber auch nicht unterbrechen und so hörte sie ihr einfach nur aufmerksam zu.

      »Jedenfalls habe ich alle zur Weißglut gebracht, wenngleich ich dabei nicht mehr viel gelernt habe. Ich war allen einen Dorn im Auge, ein echtes Ärgernis, und das bin ich sicher heute noch … Aber zumindest habe Rückgrat. Ich habe gelernt zu kämpfen und mich zur Wehr zu setzen … Wenn mich das Leben in diesem beschissenen Sumpf etwas gelehrt hat, dann das!«

      Dann bist du eine der wenigen Huren, die sich das bewahrt haben, dachte Tamora spontan. In der Regel lehnen sie sich ja nicht mehr auf, wenn man ihnen das Rückgrat erst einmal gebrochen hat.

      »Na ja«, sinnierte Violett weiter, »ich habe jedenfalls