Thomas Riedel

Der Fluch von Shieldaig Castle


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wärst mir doch nicht ernstlich böse, wenn ich auf die Burg ziehen würde?«, fragte er leise.

      »Es ist wohl das Los aller Mütter, dass sie alleingelassen werden.«

      »Wie herrlich vernünftig du doch sein kannst.«

      »Findest du?«

      »Hm.« Brantley beugte sich ein wenig herab und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange. »Wir müssen daran denken, die Vorbereitungen zur Beerdigung zu treffen, Mutter. Sicherlich wird man uns erwarten.«

      »Ja.«

      »Warum sagst du das so zögernd?«

      »Weil ich noch nie gern auf eine Beerdigung gegangen bin. Außerdem wird sich Vater nicht freimachen können. Er kann jetzt nicht aus dem Geschäft heraus. Du weißt doch selbst, dass er an einem Entwurf für die Eisenbahnbrücke über den ›Firth of Forth‹ arbeitet. Vergiss nicht, wie wichtig ihm das Projekt ist, und dass er in Konkurrenz zu Thomas Bouch mit seiner Kettenbrücke steht. Wir werden allein reisen müssen, Brantley.«

      »Ich freue mich darauf.«

      »Das solltest du eher nicht sagen.«

      »Ich meinte es nicht so, wie du es jetzt aufgefasst hast, Mutter. Aber seien wir ehrlich, am Tod von Tante Scarlett ist doch nichts mehr zu ändern, ganz gleich, was wir uns auch wünschen würden.«

      »Du bist immer so realistisch, mein Sohn … Lass uns das Gespräch abbrechen. Wir müssen tatsächlich ans Packen denken.«

      Sie gab ihm einen leichten Schubs gegen die Schulter und ging langsam aus dem Zimmer.

      »›Shieldaig Castle‹ …«, flüsterte Brantley Gates vor sich hin. »Du wirst mir gehören …«

      ***

      Kapitel 4

      Gracelynn Gates betrat ›Shieldaig Castle‹ mit einem Frösteln. Die Burg erschien ihr nach all den Jahren noch unheimlicher zu sein.

      Bin ich wirklich als Kind hier herumgetollt? Habe ich es wirklich gewagt, in den Kellergewölben nach einem Schatz zu suchen?, fragte sie sich. Nicht für Gold und Edelsteine würde ich mich jetzt dort hinunter begeben wollen.

      Ruhig nahm sie die Beileidsworte vom alten George entgegen. Auch jetzt weinte sie nicht, jetzt, wo sie ihrer verstorbenen Schwester so nahe war. Genauso ruhig folgte sie dann auch dem schlichten Sarg. Selbst als sie mit einem Schäufelchen drei kleine Häufchen Erde in die Gruft warf, lief ihr nicht eine Träne über die Wangen.

      Als sie nach der Beisetzung wieder in der Burg zurück war, nahm sie den Rechtsanwalt beiseite.

      »Wie lange müssen wir auf die Testamentseröffnung warten, Mister Greenwood?«, fragte sie ihn. »Es ist ja schließlich nur eine Formsache. Mein Sohn wird alles erben, denke ich. Ich selbst habe wenig Zeit. Mein Mann erwartet mich dringend zurück.«

      »Nach dem Willen der Toten wird sich alles sehr schnell abwickeln, Lady Gracelynn«, erwiderte Greenwood reserviert, aber höflich. »Da, wie ich gesehen habe, die betreffenden Familienangehörigen vollzählig versammelt sind, können wir schon in drei Tagen den Willen der Verstorbenen verlesen.«

      Drei Tage, dachte sie ergeben, drei Tage werde ich also über mich ergehen lassen müssen.

      *

      Schließlich war es aber soweit. Gracelynn Gates saß an dem großen, kostbaren Tisch, rauchte lässig eine Zigarette und wartete, genau wie ihr Sohn und das Personal, das ebenfalls bedacht werden sollte, auf die Verlesung des Testamentes.

      Greenwood rief die Namen derjenigen auf, die Lady Scarlett Cunningham beerben sollten. Alle antworteten mit einem klaren, teils schon neugierigen Ja. Nur der alte George musste einmal schlucken, ehe er ihm das kleine Wort über die Lippen kam.

      Greenwood erbrach die Siegel, nahm umständlich das Papier heraus und begann zu lesen.

      Zuerst hörte Gracelynn Gates nur oberflächlich zu. Für sie war die Sache so klar wie das Sonnenlicht, das durch die großen Fenster hereinfiel.

      »Und so verfüge ich, dass mein alter, treuer Diener George auf Lebenszeit auf ›Shieldaig Castle‹ verbleiben darf. Außerdem sind ihm monatlich zwanzig Pfund zu zahlen, dazu freie Verpflegung.«

      Gracelynn Gates nickte mit dem Kopf. Sie hatte nichts anderes erwartet. Scarlett war schon immer romantisch gewesen. Ihr Sohn würde sich mit dem alten Mann abfinden müssen.

      »Meiner Schwester Gracelynn vererbe ich meinen gesamten Schmuck, sowie das Gemälde, das sie immer besonders liebte. Meinem Neffen Brantley sollen die untere Hälfte der Wälder südlich der Burg zufallen. Er mag sie veräußern oder behalten. Ich stelle es ihm anheim.«

      Brantley Gates blickte seine Mutter betroffen an.

      »Wälder?«, fragte er leise. »Was soll ich mit Wäldern? Was ist mit der Burg?«

      Seine Mutter stieß ihn an, zum Zeichen, dass er sich ruhig verhalten sollte. Gespannt, Greenwood nun nicht mehr aus den Augen lassend, hörte sie, wie dieser weiter vorlas:

      »›Shieldaig Castle‹ sowie alles Bargeld und was sonst dazugehört, vermache ich meiner Tochter Morgan.«

      Der Anwalt musste eine Pause einlegen, denn allgemein wurden jetzt Stimmen laut. Gemurmel und Getuschel war die Reaktion auf seine Worte.

      »Ich bitte um Ruhe«, forderte Greenwood und klopfte mit seinem ›Waterman‹-Füllfederhalter hörbar auf den Tisch, und fuhr erst fort, als es wieder still im Raum geworden war.

      »Meine Tochter lebt unter dem Namen Morgan McKnee bei einer ehrbaren Frau, der ich mein uneheliches Kind anvertraute. Wohl habe ich mich von ihr getrennt, aber ich habe sie dennoch geliebt. Vielleicht habe ich sie sogar mehr geliebt, als jede andere Mutter ihr Kind liebt, denn ich habe für Morgan ein großes Opfer gebracht, als ich mich von ihr trennte. Ich wollte nicht, dass sie unter den missbilligenden Blicken der Gesellschaft aufwuchs – denn ihr Vater starb, ehe er mir seinen Namen geben konnte – und deshalb scheute ich sie, wie ich die Vorwürfe meiner Schwester scheute.

      Morgan wird also als neue Lady Cunningham auf ›Shieldaig Castle‹ einziehen. Sie soll, und das ist mein ausdrücklicher Wunsch, ein halbes Jahr hier leben. Erst nach diesem Zeitpunkt hat sie das Recht, die Burg zu verkaufen. Ich hoffe aber, dass sie ›Shieldaig Castle‹ so lieben lernt, wie ich es geliebt habe. Sollte meine Tochter zur Zeit der Testamentseröffnung nicht mehr am Leben sein, dann ist mein Neffe Brantley Gates der Erbe.«

      »Das ist doch nicht möglich«, rief Brantley aufgebracht. »Meine Tante hat keine Tochter. Wir müssten davon wissen.«

      Anwalt Greenwood faltete die Papiere zusammen.

      »Sie irren sich, Mister Gates«, erwiderte er mit unbewegtem Gesicht. »Lady Scarlett hat eine Tochter. Sie ist inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt. Noch heute wird der Brief der Verstorbenen, den sie handschriftlich für ihre Tochter geschrieben hat, an diese abgehen. Hier ist sogar eine Fotografie der jungen Lady. Es ist gerade vier Monate alt.«

      »Woher haben Sie diese Ablichtung?«

      »Von Mrs. McKnee. Zweimal in den letzten Jahren hat sie Morgan fotografieren lassen und meiner Kanzlei die Bilder geschickt. Es sind selbstverständlich auch entsprechende Briefe vorhanden, die ich Ihnen allerdings nicht zur Einsicht freigeben kann. Es handelt sich um private Post, die mir Lady Scarlett anvertraut hat.«

      »Sie wussten also die ganze Zeit von der angeblichen Tochter meiner Tante?«, empörte sich Brantley Gates.

      »Ja«, lächelte Greenwood. »Ich wusste davon, und sie existiert tatsächlich, Mister Gates. Lady Morgan Cunningham, die augenblicklich noch den Namen McKnee trägt, ist eine äußerst attraktive junge Dame.«

      »Warum ist sie dann nicht zur Testamentseröffnung geladen worden?«

      »Weil Lady Scarlett es nicht wollte«, antwortete Greenwood,