Lene Levi

Nordwest Bestial


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vor einigen Monaten war er nach über zwei Jahrzehnten wieder in die ihm vertraute Landschaft seiner Kindheit und Jugendzeit zurückgekehrt. »Back to the Roots«, wie er es nannte. Er hatte nochmals das große Bedürfnis nach Veränderung verspürt. Seinen alten Zopf hatte er im vergangenen Sommer einfach abgeschnitten, hatte sich selbst einen kahlen Schädel verpasst, über die polierte Kopfhaut einen alten Hut gestülpt, eine längst aus der Mode gekommene Sonnenbrille auf die Nase geschoben, und war so eines Morgens in der Polizeiinspektion aufgekreuzt. Die Kollegen hatten ihn verblüfft angestarrt, aber nichts gesagt. Er passte natürlich nicht wirklich zur Oldenburger Polizeiinspektion. Das war ihm bewusst. Aber der Job bereitete ihm Spaß. Jedenfalls am Anfang, bis die Sache mit Selby in seinem Büro passierte. »Burnout Syndrom« kritzelte die Polizeipsychologin auf ihren Notizblock und setzte dahinter ein dickes Fragezeichen.

      „Trinken Sie Alkohol?“ Sie lächelte.

      „Das kommt vor“, antwortete Robert.

      „Häufig?“ Sie lächelte.

      Er tat so, als müsste er erst darüber nachdenken. Sie lächelte noch immer. „Ich meine“, lenkte sie ein, „trinken Sie täglich Alkohol?“

      „Nee!“, antwortete Robert kurz und knapp.

      „Auch nicht einen Cocktail zur Happy Hour, ein Gläschen Bier nach Büroschluss, ein Schoppen Wein zum Essen?“

      „Nee!“

      Frau Diplom-Psychologin Ursula Przybylski war Expertin auf dem Gebiet der Alkoholismus-Forschung. Sie hatte an der Carl-von-Ossietzky-Universität angewandte Psychologie studiert und war nach ihrem Abschluss bei der hiesigen Polizei kleben geblieben. Das Thema ihrer Diplomarbeit lautete: Alkoholismus am Arbeitsplatz aus der Perspektive subjektiv sinnhafter Lebensbewältigung unter dem Aspekt positiver und negativer Attribute des Geschlechtsrollen - Selbstkonzepts.

      Es hatte sich aber erst nach Studienabschluss zum Hauptthema ihres wissenschaftlichen Forscherdrangs entwickelt und war inzwischen zu einer großen Kampfansage herangewachsen. Ihr bislang größter Erfolg gegen Alkoholmissbrauch bestand darin, dass sie es in der Polizeiinspektion tatsächlich durchgesetzt hatte, den Kollegen das bis dato übliche Feierabendbier zu verbieten. Es war allgemeiner Brauch, dass sich Polizisten manchmal nach Dienstschluss unten in der Polizeikantine trafen, sich eine Flasche Bier genehmigten und sich dabei ihren berufsbedingten Alltagsstress von der Seele redeten. Keiner ihrer Vorgesetzten hatte bisher irgendwelche Einwände dagegen gehabt, bis sich die Diplom-Psychologin durchsetzte. Ihre ungeliebte Dienstanweisung hatte ihr schließlich den Spitznamen »Bier-Uschi« eingebracht; wahrscheinlich auch deshalb, weil ihr polnisch klingender Familienname ohnehin den meisten Kollegen nur schwer über die Lippen ging und fast immer in einem heillosen Durcheinander aus unaussprechlich aneinandergereihten Zischlautendungen hinauslief. Auch Robert vermied es, sie mit ihrem Nachnamen anzusprechen. „Frau Kollegin, was bezwecken Sie eigentlich mit ihrem Fragebogen? Ich bin kein Alkoholiker.“

      Sie lächelte ihn an und warf dabei ihre Schüttelfrisur mit einer seitlich geneigten Kopfdrehung in die richtige Position. „Sie waren oder sind nicht verheiratet?“

      „Das ist korrekt“, antworte Robert.

      „Und Kinder?“

      „Ich mag Kinder, wenn Sie das meinen.“

      Sie lächelte. „Ich meinte, haben Sie eigene Kinder?“

      Robert wiegte sanft den Kopf und lächelte nun auch. Sie lächelte ebenfalls.

      „Sind Sie Raucher?“

      „Als Kettenraucher würde ich mich nicht unbedingt bezeichnen.“

      „Wie viele Zigaretten am Tag?“

      „Notieren Sie am besten, er raucht gelegentlich. Das kommt der Beantwortung Ihrer Frage am nächsten.“

      „Das sollten Sie schon mir überlassen“, meinte sie und gab sich beleidigt.

      Er beschloss, die regelmäßigen Sitzungen bei Ursula Przybylski endgültig einzustellen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, ihn von seiner Last zu befreien, indem sie ihm eine andere aufbürdete. Es war schließlich diese erbarmungslose, falsche Höflichkeit, die ihn langsam aber sicher aufrieb, ihr ewiges Lächeln. Er stand auf und verabschiedete sich freundlich. Tatsächlich hatte er jetzt das Gefühl, jemanden die Zähne einschlagen zu müssen. Wenn das der unergründliche Zweck ihres saudämlichen Fragespiels gewesen sein sollte, dann war es auf jeden Fall ein voller Erfolg.

      Als er an seiner Haustür den Briefkasten öffnete, fand er darin das Schreiben des Labors. Nun hatte er es schwarz auf weiß. Seine Blutzuckerwerte waren nicht in Ordnung, jedenfalls nicht so, wie sie es hätten sein sollen. Es war von Anfangsverdacht auf Diabetes mellitus die Rede. Probates Gegenmittel: mehr körperliche Bewegung, weniger Kohlenhydrate, runter vom Übergewicht.

      Er nahm den kleinen Knubbel aus dem Versteck, das sich Lin in seiner Wohnung eingerichtet hatte, hielt sein Feuerzeug kurz drunter, um das Klümpchen Schwarzer Afghane zu erwärmen , dann bröselte er es ab und mischte es mit Tabak. Es lag gut dreißig Jahre zurück, dass er sich das letzte Mal einen Joint gebaut hatte. Ob er das Zeug überhaupt noch abkönnte, würde sich in wenigen Minuten herausstellen. Jetzt war ihm aber danach zumute.

      Er entdeckte auf einem kleinen Beistelltisch, der neben der Le Corbusier-Liege stand, die hauptsächlich Lin benutzte, wenn sie Bücher las, einen Studienratgeber, der das Thema Rechtsmedizin behandelte. Robert machte es sich auf der Liege bequem, zündete sich seinen Joint an und begann in der Broschüre zu blättern.

      Lins Beruf war durch einige TV-Serien, besonders in letzter Zeit, überaus populär geworden. Neuerdings wurde ihr verantwortungsvoller Job sogar als eine Art Modeberuf angesehen. Das Rechtsmedizinische Institut arbeitete eng mit der Medizinischen Fakultät der Universität Oldenburg zusammen. Vermutlich wurde diese Broschüre deshalb herausgegeben, um dem TV-verzerrten Berufsbild entgegenzuwirken, denn es passierte nicht selten, dass Lin mit Medizinstudenten zu tun hatte, die eine Famulatur oder ein Praktikum im Institut absolvieren wollten. Nicht wenige Studenten verabschiedeten sich bereits nach den ersten Probestunden aus dem Sektionssaal und damit auch von ihrem Traumberuf; oder sie klappten schlichtweg zusammen, weil sie allein schon die penetranten Gerüche abschreckten. Die meisten der zukünftigen Humanmediziner schienen, Lins Meinung nach, jedenfalls nicht in der Lage zu sein, Fiktion und Realität klar und deutlich voneinander unterscheiden zu können.

      Die Bezeichnung Forensik umfasst ganz unterschiedliche wissenschaftliche Arbeitsfelder, die sich einerseits mit dem Aufarbeiten, Analysieren oder der Rekonstruktion krimineller Handlungsabläufe beschäftigen. Dazu zählen auch Teilgebiete der Traumatologie, der forensischen Psychologie und der Psychiatrie. Andererseits befasst sich dagegen die klassische Rechtsmedizin hauptsächlich mit körperlichen Verletzungen an Leichen, Leichenteilen oder mit aufgefundenen und sichergestellten Insekten in oder auf Leichen. Sie versucht wissenschaftlich, von diesen Tatsachen ausgehend, auf die entsprechenden Todesumstände Rückschlüsse zu ziehen. Im Bereich der forensischen Psychiatrie dagegen werden Straftäter hinsichtlich des Grades ihrer Gefährlichkeit und der Schuldfähigkeit eingeschätzt. Alles in allem, ein ziemlich weites Feld - und ganz bestimmt kein Betätigungsfeld für medizinstudierende Weicheier, wie Lin immer wieder bemerkte.

      Er hatte großen Respekt vor ihrer Arbeit. Aber allein schon der Geruch von Desinfektionsmitteln oder Formalin löste in ihm einen kalten Schauder mit Gänsehauteffekt aus. Er zählte sich selbst, ohne Umschweife oder lächerliche Ausreden, ganz eindeutig zur Fraktion der Weicheier.

      Robert ging jetzt mehrmals täglich mit dem Hund der älteren Dame spazieren, die direkt unter ihm wohnte. Sie hatte ihn angesprochen und gefragt, ob er dem Tier etwas zusätzlichen Auslauf verschaffen könne, da sie selbst nicht mehr so »flink op de Fööt« sei. Robert kümmerte sich gern darum. Er nutzte auch die Zeit, um sich intensiver als zuvor um seine Mutter zu kümmern, die ganz in der Nähe wohnte. Rixte war mit ihren über neunzig Jahren noch recht gut beieinander, brauchte aber ab und an vor allem Unterhaltung. Einmal am Tag triumphierte in ihr das Verlangen, zu tratschen. Auf diese Weise erfuhr er meist, was sich so alles im Ziegelhofviertel zugetragen