beim morgendlichen Blick in den Badezimmerspiegel, empfand er sich selbst als einen eher zufällig übrig gebliebenen Retro-Veteran, als Rhythm & Blues-Saurier; und wäre er damals in den 70ern nicht bei den Bullen gelandet, hätte aus ihm vielleicht sogar ein einigermaßen passabler Musiker werden können. Die Betonung lag auf ‚hätte‘, das wusste er selbst am besten. Einer alten »Flying Gibson«, die jahrelang nahezu unberührt in irgendwelchen Zimmerecken herumgestanden hatte, versuchte er nun sogar wieder ab und an schräge Klänge und runde Bluesakkorde abzuringen. Auch wenn seine Fingerspitzen inzwischen viel zu taub geworden waren, so hatte er doch endlich wieder damit angefangen, auf dem Instrument zu spielen. Und es funktionierte wesentlich besser, als er es zunächst für möglich gehalten hatte. Für den Hausgebrauch reichte es. Immerhin.
Der Böschung am Bahndamm hatte er sich zumindest schon seit einigen Wochen nicht mehr genähert. Zu oft hatte er versucht, die genaue Abfolge der Handlungen des Snipers zu rekonstruieren. Aber die Aneinanderreihung von nicht zueinanderpassenden Akkorden führte nun mal zu nichts. Das hatte er endlich begriffen. Oder aber der richtige Moment dafür war noch nicht gekommen.
2
Seit dem Attentat waren bereits Monate vergangen, trotzdem herrschte in der Polizeiinspektion noch immer ein ungutes Gefühl, das zwischen Zweckoptimismus und Resignation pendelte. Auf der 5. Etage war noch immer die Führungsposition der beiden Fachkommissariate 1 & 2 unbesetzt. Beide Abteilungen wurden, nachdem der bisherige Chef in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war, vom Zentralen Kriminaldienst übergangsweise geleitet. Die Ermittlungen waren mit Roberts Beurlaubung nahezu zum Erliegen gekommen. Die plötzlich aufgetauchte Anwesenheit eines Snipers hatte bei der Bevölkerung Angst und Schrecken erzeugt. Ein kaltblütiger Auftragsmord passte einfach nicht ins scheinbar friedliche Bild der Oldenburger. Eine Art Schockstarre hatte sich auch bei den Beamten ausgebreitet, aus deren Umklammerung sie sich nur mühsam befreien konnten. Von offizieller Seite sprach der PD Oldenburg lediglich von strukturellen Maßnahmen, die innerhalb der beiden Fachkommissariate dringend erforderlich wären. Tatsächlich suchte Polizeipräsident Joachim Radunski nach einem neuen Kripo-Chef, der geeignet wäre, den Laden wieder auf Vordermann zu bringen. Als Robert von einer Sekretärin in das Büro des Polizeipräsidenten geführt wurde, war er nicht sonderlich überrascht.
Der Raum war riesig. Ein Metallschreibtisch prangte wie ein Ausstellungsstück auf einer Designmesse vor einem Panoramafenster, das mit Lamellenjalousien automatisch auf die einfallenden Lichtverhältnisse reagierte. Der Ausblick aus dem obersten Stockwerk des ehemaligen Regierungsgebäudes verlieh dem Büro zusätzlichen Glanz; man sah direkt auf den Kaiserteich und das umliegende Dobbenviertel. In einer Ecke neben dem Panoramafenster befand sich eine Garnitur mit Drehstühlen, alle mit sehr hochwertigen Lederbezügen. In deren Mitte ein kleiner runder Rauchertisch mit Edelholzintarsien. Alles wirkte sehr nobel. Roberts Blick blieb jedoch an einem gerahmten Foto an der Wand hängen. Es zeigte Joachim Radunski, leger in Freizeitkleidung und Golfutensilien. Das Bild war sicher schon vor ein paar Jahren aufgenommen worden. Neben Radunski war ein ehemaliger niedersächsischer Ministerpräsident zu erkennen, der inzwischen auch als Bundespräsident gescheitert war. Wahrscheinlich eine persönliche Erinnerung an alte glanzvolle Zeiten. Radunski stemmte sich vom Sitz hoch. Der Mann war dick, fast breiter als hoch. Sein Teint war teigig, er hatte erstaunte braune Augen, eine winzige, kindliche Nase und schütteres Haar. Er kam auf Robert zu und strahlte ihn mit seinem besten Fernsehlächeln an. Seine Zähne wirkten wie blankpoliert. „Schön, dass Sie kommen konnten, Herr Rieken.“
Sein oberster Vorgesetzter bot ihm zuvorkommend einen Platz an. „Sie haben eine tadellose Laufbahn absolviert, Hauptkommissar Rieken. Alles makellos, sowas ist heute ja schon eher eine Seltenheit.“ Dabei gestikulierte er mit Roberts Personalakte.
„Wie soll ich das verstehen?“, hinterfragte Robert.
„Ach, nehmen Sie es einfach als Kompliment.“ Robert konnte am ganzen Gehabe des Polizeipräsidenten leicht ablesen, dass er mächtig unter Druck stand. Die Wogen, die das Attentat verursacht hatte, waren weit über die Ländergrenzen Niedersachsens hinaus geschwappt und hatten selbstredend auch auf Polizeipräsident Radunski einen unschönen Schatten geworfen. Die Presse hatte dem Vorfall in den vergangenen Wochen allergrößte Aufmerksamkeit geschenkt, schließlich war dieser Mord der eindeutige Beweis dafür, dass inzwischen die ausgestreckten Tentakel des organisierten Verbrechens sogar bis in das ruhige und beschauliche Oldenburg vorgedrungen waren. Den Begriff »Russenmafia« wollte offenbar in der Polizeidirektion niemand mehr laut aussprechen. Vorerst stocherten die Journalisten zwar nur in den offenen Wunden herum, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würden sie sich auch mit der Frage der Kompetenz des Polizeichefs beschäftigen. Diesem Problem versuchte er zuvorzukommen. Radunski warf den Kopf zurück und lachte. Robert fand das Lachen allerdings genauso angespannt beherrscht wie das gesamte Verhalten des Mannes.
„Sehen Sie, Herr Hauptkommissar, wir müssen endlich wieder auf unseren altbewährten Erfolgskurs bei der Verbrechensbekämpfung zurückkehren. Und ich denke, Sie sind genau der richtige Mann dafür. Wenn schon das Organisierte Verbrechen nicht einmal mehr davor zurückschreckt, vor den Augen der Ermittlungsbehörde und der Justiz einen kaltblütigen Mordanschlag zu begehen, dann müssen wir dem mit aller größter Entschlossenheit und äußerster Konsequenz entgegentreten.“ Die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Ich habe gestern mit dieser Diplom-Psychologin, mit Frau Ursula Przy-bycz-linski …“
„Sie meinen, sicher die Kollegin Przybylski“, sagte Robert schnell, um ihm die korrekte Aussprache des Namens zu ersparen. Radunski nickte zustimmend.
„Ja, natürlich, also ich habe mit ihr gesprochen. Sie bestätigte, dass einer sofortigen Wiederaufnahme Ihrer erfolgreichen Ermittlungsarbeit keinerlei gesundheitliche Bedenken mehr im Wege stünden. Sie sind also wieder voll einsatzfähig und diensttauglich. Sehen Sie das genau so?“
„Einsatzfähig, diensttauglich.“ Diese zwei Worte platzten aus ihm heraus.
Auf Radunskis rundem Gesicht tauchte der misstrauische Ausdruck auf, den Robert nur allzu gut kannte. „Und wer sonst, wenn nicht Sie und ihr Assistent Kriminalmeister Onken haben durch ihre akribische Ermittlungsarbeit diesen Stein ja schon ins Rollen gebracht. Sie müssen unbedingt den Sniper aufspüren und ihn so schnell wie möglich hinter Schloss und Riegel bringen. Sonst bekommen wir heftigen Gegenwind von ganz oben. Verstehen Sie?“
Auf den Auftragskiller war inzwischen das ganze Spektrum seines Interesses gerichtet. „Wären Sie dazu bereit, als neuer Chefermittler beide Kommissariate zu übernehmen? Das würde selbstverständlich auch mit einer Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar einhergehen; versteht sich ja von selbst.“
Robert mochte die ohnehin reichlich anfallenden administrativen Tätigkeiten nicht besonders, die nur mit dem PC zu erledigen waren. Zwei Kommissariate zu leiten, das bedeutete unweigerlich jede Menge Schreibkram, stundenlanges Palavern auf Konferenzen mit kleinen Bullshit-Bingo-Einlagen, kaum noch Kontakt mit der Welt da draußen, langweiliger Büroalltag bis zur Pensionierung. Er rümpfte seine Nase.
„Um ehrlich zu sein, Herr Polizeipräsident, ich würde liebend gern als Chefermittler arbeiten. Als Kripo-Chef, fürchte ich, wäre ich in der Führungsposition gleich zweier Fachkommissariate glatt weg eine Fehlbesetzung.“
Radunski errötete, stammelte eine Floskel, die Roberts Bedenken herunterspielen sollte; dabei blickte er ihn die ganze Zeit über wie ein Cockerspaniel an, der Angst vor Prügel hat.
„Sie würden selbstverständlich von mir jegliche Unterstützung erhalten.“
„Jede?“, erkundigte sich Robert und schien über das Angebot ernsthaft nachzudenken. Aber ihm fehlte die Muße, um aus dem Bauch heraus eine spontane Entscheidung zu treffen. „Und?“, hakte Radunski nach. „Ich würde Ihnen außerdem einige Freiheiten einräumen.“
Nachdem Roberts Interesse geweckt war, schob er einen Stapel Papierkram auf dem kleinen Tisch zur Seite, lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück und hörte zu, was Radunski noch zu sagen hatte.
„Ich meine damit