„Er hat eine Spur hinterlassen“, erläuterte Jan trocken. „Das Dum-Dum-Geschoss. Es steckte unter der Kunststoffverkleidung der Bürodecke. Die Reste des Projektils sind allerdings nach Meinung unserer Ballistiker als Beweisstück völlig unbrauchbar, da es nur noch aus zerfetzten Metallsplittern besteht.“
„Unsere Ballistiker reden lauter Scheiß!“ Robert hielt inne und korrigierte sich. „Jedenfalls teile ich ihre Meinung nicht.“ Dann fuhr er in ruhigem und neutralem Ton fort. „Wir sollten die Splitter des Projektils ans Kriminaltechnische Institut beim BKA nach Wiesbaden einsenden. Die Experten dort liefern oft entscheidende Hinweise auf den Täter. Kannst du das noch heute veranlassen? Du weißt ja, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.“
Jan grinste verlegen. „Ich wollte nur sagen, dass ich diese Option schon eingeleitet habe.“
„Ich hab´s irgendwie geahnt, Jan. Ich bin, ehrlich gesagt, heilfroh darüber, dass du dir die Sache mit dem Studium noch mal überlegt hast. - Und was ich auch noch sagen wollte: Ich weiß jetzt wieder, weshalb ich diesen Job hier so mag.“
„Und was ist der Grund?“
„Wir müssen hier nicht ständig lächeln, wie die Parfümverkäuferinnen bei Leffers. Wir können uns auch mal anschreien, ohne dass gleich der Polizeipsychologische Dienst vor der Tür steht.“
Es klopfte energisch an der Tür.
„Wenn man vom Teufel spricht“, witzelte Jan grinsend.
6
Als Oxana die Auffahrt erreicht hatte und langsam den Kiesweg zum Anwesen entlangrollte, entdeckte sie auch den Jeep wieder, der direkt vor der Eingangstür des Hauses abgestellt war. Sie hatte sich also doch nicht getäuscht. Es war Erik de Groot, der bereits vor der Haustür stand und auf sie zu warten schien. Als er die Scheinwerfer des Fiat Punto sah, eilte er ein paar Schritte dem sich nähernden Kleinwagen entgegen und wartete dann, bis Oxana direkt neben ihm anhielt und den Motor ausstellte. Kaum war sie ausgestiegen, sprach er sie an: „Sie müssen die Haushälterin sein, nicht wahr?“
Oxana nickte etwas verlegen. „Ja, die bin ich. Mein Name ist Oxana Timtschenko. Und Sie sind sicher der Sohn der Familie.“
Erik sah sie erstaunt an.
„Ihre Mutter hat mich schon darüber informiert, dass Sie heute früh hier eintreffen würden.“
Er streckte seine Hand zum Gruß aus und stellte sich vor. Oxana wunderte sich über seine Geste. „Sehr angenehm“, sagte sie, zog dann aber eilig ihre Hand aus der seinen zurück.
„Ich bin vorhin etwas forsch an Ihnen vorbeigezogen.“ Er warf einen Blick auf die mit Lehmspritzern überzogene Motorhaube ihres Wagens. „Vermutlich hat Ihr Wagen ziemlich was abgekriegt. Entschuldigen Sie.“
„Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen.“
Oxana sah hinüber zum Haus. „Haben Sie schon an der Tür geläutet?“
„Ja, hab ich, sogar mehrmals. Aber es scheint niemand im Haus zu sein.“ Er dachte kurz nach. „Besitzen Sie denn als Haushälterin keinen Zweitschlüssel für die Haustür?“ Oxana zuckte mit den Achseln. „Nein, leider nicht.“
„Das ist wieder mal typisch“, stöhnte Erik. „Bei den de Groots herrscht wahrscheinlich wieder mal Sicherheitswarnstufe 3.“ Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn, um lästige Regentropfen abzustreifen.
„Das glaube ich nicht“, sagte Oxana. Sie sah hinauf zu den beiden kleinen Fenstergauben im Obergeschoss des Hauses. Die Vorhänge waren noch zugezogen und es drang auch kein Licht aus der als Schlafzimmer genutzten Dachkammer.
„Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass niemand im Haus ist. Es stehen doch beide Wagen auf dem Hof.“
Erik sah sich um. Sie hatte recht. Ohne Fahrzeug kam man hier nicht weit. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Der Wagen seines Vaters, ein dunkelgrüner Landrover, stand unter dem Dach des Carports direkt neben dem Haus, und der silbergraue Wagen seiner Mutter, ebenfalls ein Landrover, allerdings ein kleineres Model, war neben dem Hundezwinger abgestellt. Genau an der Stelle, an der sie für gewöhnlich immer ihren Wagen abstellte. Von da aus konnte sie Wim, ihren belgischen Schäferhund, schneller aus seinem Zwinger befreien. Sie liebte es mit dem Hund herumzutollen.
Beide hatten sich der Haustür genähert. Oxana drückte sicherheitshalber auf den Klingelknopf, so, als wollte sie sich selbst davon überzeugen, dass die Anlage ordnungsgemäß funktioniere. Sie vernahmen den Klingelton, aber von dem sonst üblichen Hundegebell aus dem Hausflur war nichts zu hören. Oxana entfernte sich ein paar Schritte von der Haustür, blieb dann auf dem Hof stehen und sah sich um. Ihr Blick richtete sich zufällig auf Sophia de Groots Wagen und ihr fiel auf, dass das Seitenfenster der Fahrertür nicht ganz geschlossen war. Sie spürte instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Als sie einen Blick in den Fond des Landrovers warf, sah sie, dass das Regenwasser bereits den lederbezogenen Fahrersitz völlig durchnässt hatte. Auch der Wagenschlüssel steckte noch im Zündschloss.
Erik, der nun direkt neben ihr stand, öffnete die Fahrertür, betätigte einen der elektrischen Fensterheber und ließ das Seitenfenster hinaufgleiten. Anschließend drückte er einmal kurz auf die Hupe und zog dann den Zündschlüsselbund heraus. Aber selbst nach dem lautstarken Hupsignal schien sich nichts im Haus zu rühren. Er warf einen Blick auf das Schlüsselbund. „Vielleicht ist hier auch einer für die Haustür dran.” Doch Oxana musste nicht erst die Wagenschlüssel in die Hand nehmen. Sie schüttelte den Kopf. „Die sind nur für ihren Wagen. Der für die Haustür ist ein Sicherheitsschlüssel.”
„Meine Eltern sind vielleicht zu Fuß mit dem Hund im Moor unterwegs”, meinte Erik und sah resigniert auf seine Armbanduhr. „Bestimmt werden sie jeden Augenblick hier wieder eintreffen.” Er strich sich erneut mit der Hand über die Stirn und sah hinauf. „Aber bis dahin sollten wir uns in meinen Wagen setzen, sonst holt man sich ja bei diesem Sauwetter noch den Tod. Außerdem stinkt es hier wie im Frühjahr, wenn die Bauern ihre Felder mit Jauche düngen.”
Oxana hielt diesen Vorschlag für eine gute Idee. Nachdem sich die Autotüren geschlossen hatten, entstand ein mehrere Sekunden langes Schweigen. Dann fragte Erik: „Wie lange leben Sie eigentlich schon in Deutschland? Ich meine, Sie sprechen nahezu ein akzentfreies Deutsch.”
Sie schenkte ihm ein rasches, flüchtiges Lächeln, bevor sie antwortete. „Deutsch ist nur eine meiner Muttersprachen. Ich bin quasi zweisprachig aufgewachsen.”
„Und woher stammen Sie ursprünglich? Ich meine, ihr Name ist doch ein typisch russischer, oder?”
Oxana war auf diese Frage bereits vorbereitet. Sie hatte sie in den letzten Jahren schon tausend Mal beantwortet. „Wir sind sogenannte Spätaussiedler. Ich wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Omsk geboren. Das liegt in Sibirien. Meine Mutter ist deutschstämmig, aber mein Vater war oder vielmehr ist Russe. Meine Mutter und ich, wir sind vor 15 Jahren ausgesiedelt und leben seither in Vechta. Mein Vater blieb in Russland. Er lebt heute noch in Omsk.”
Erik musterte ihr Profil und nickte: „Ah ja, verstehe. Entschuldigen Sie, ich wollte nicht zu neugierig sein.”
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Aber ich möchte gern Ihr Kompliment erwidern. Sie sprechen für einen gebürtigen Niederländer auch ein erstaunlich akzentfreies Deutsch.”
Erik musste lächeln. „Danke.” Er ließ sich in den Fahrersitz zurücksinken und atmete aus. „Dann haben wir ja eine Gemeinsamkeit. Ich bin auch zweisprachig aufgewachsen. Meine Mutter stammt, wie Sie sicher wissen, hier aus der Gegend, aber mein Vater ist Niederländer. Die Grundschule habe ich noch in Utrecht besucht. Aber dann sind wir nach Deutschland gezogen und meine Eltern haben ihr Unternehmen hier im Oldenburger Münsterland aufgebaut. Jetzt studiere ich wieder in Groningen. Ein ständiges Hin und Her, nicht wahr?”
„Ich weiß”, behauptete Oxana, „es stand ja alles in der Zeitung.”
Die