Lene Levi

Nordwest Bestial


Скачать книгу

hatten sich inzwischen unter die Menge gemischt und versuchten mit einigen Polizisten aus Groningen Kontakt aufzunehmen. Plötzlich spürte Robert an seinem Uniformärmel ein leichtes Ziehen. Als er seinen Kopf seitlich neigte, entdeckte er eine Frau, die direkt hinter ihm stand. „Sind Sie zufällig Hauptkommissar Robert Rieken?“ Sie sprach diesen einen Satz in nahezu akzentfreiem Deutsch. Als er sich umwandte, reichte sie ihm ihre Hand und stellte sich vor. „Amélie Kuperus, Commissaris bei der Regiopolitie Groningen.”

      „Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Robert und stellte gleichzeitig fest, wie albern und stocksteif diese altmodische Höflichkeitsfloskel wirkte. Deshalb beugte er sich leicht zu ihr und flüsterte: „Solche Massenansammlungen sind eigentlich nichts für mich.“

      Eine Abordnung des »Nederlands Politie Orkest« hatte inzwischen das Podium bezogen und schmetterte ein stark nach Blech klingendes deutsch-holländisches Weihnachtslieder-Potpourri in die Menge.

      „Hätten Sie was dagegen, wenn ich Sie zu einem Glas Glühwein entführe? Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr.“ Amélie Kuperus lächelte zustimmend. „Also, wohin wollen wir fliehen?“

      Robert deutete auf eine am Ende des Marktes aufgestellte Bude, die etwas außerhalb des Schallpegels stand. Sie bahnten sich gemeinsam einen Weg durch die Menge.

      „Sie sprechen ein akzentfreies Deutsch. Ich sollte mich eigentlich schämen, dass ich nur ein paar Brocken Niederländisch zusammenbekomme.“

      „Schämen Sie sich nur ein bisschen, wenn es Ihnen weiterhilft. Dabei ist das ganz einfach zu erklären“, sagte Amélie Kuperus. „Meine Mutter stammt aus einem kleinen Fischerdorf in der Nähe von Delfzijl, direkt an der Mündung der Ems, und wir haben früher zu Hause immer auch Deutsch gesprochen.“

      Robert hörte interessiert zu, dabei ging ihm eine vage Idee durch den Kopf. Er hielt wenige Minuten später zwei dampfende Becher Glühwein in den Händen und stand nun dicht neben ihr. Sie nahm ihm einen der beiden Becher aus der Hand. „Dann könnten wir uns vielleicht auch auf Plattdeutsch verständigen. Das Groningisch-Ostfriesische Substrat ist sich sehr ähnlich.“

      „Dat schall wohl so sien.“ Amélie Kuperus versuchte, an ihrem heißen Getränk zu nippen. „Sehen Sie, jetzt haben Sie schon gar keinen Grund mehr sich zu genieren. - Op uw gezonheid!“

      „Proost!“, rief Robert ihr zu, dann stießen beide mit ihren Bechern an und tranken einen Schluck.

      „Außerdem bin ich ziemlich oft in Oldenburg“, fuhr Amélie Kuperus fort. „Meine Tochter studiert hier an der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften. Sie möchte später mal am Niederländischen Forensischen Institut arbeiten.”

      „Ah, verstehe”, sagte Robert. „Die Tochter möchte also später in die Fußstapfen der Mutter treten.“

      Amélie lächelte. „Oh nein, das glaube ich nicht. Sie studiert Humanmedizin und ich bin nur eine einfache Commissaris bei der Polizei. Sie strebt, hoffe ich jedenfalls, ein anspruchsvolleres Berufsziel an.“

      Das war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. „Könnten Sie sich eventuell vorstellen, hier bei uns ein eigenes Fachkommissariat zu leiten?“

      Sie schob sich eine Locke aus der Stirn, schüttelte aber dann ihren Kopf. „Ein freundliches und verlockendes Angebot, ich fürchte nur, mein Mann wäre damit nicht einverstanden.“

      „Schade“, gab Robert ehrlich zu, „dabei könnte ich Sie mir als Kollegin sehr gut …“ Er vermochte seinen Satz nicht zu beenden, da sich plötzlich jemand hinter ihnen mit einem Räuspern bemerkbar machte. „Darf ich?“, fragte Joachim Radunski. Ohne abzuwarten, drängte er sich zwischen beide und begann sofort zu reden. „Na, war das nicht ein gelungener Auftakt für unsere zukünftige Zusammenarbeit?“

      ***

      „Was ist denn? Warum veranstalten Sie hier diesen Affentanz? Brennt´s irgendwo?“

      Oxana wusste nicht, was sie sagen sollte. Wo sollte sie anfangen? Ihr kam die ganze Situation plötzlich so unwahrscheinlich vor, wie ein böser Traum. Der uniformierte Beamte war jetzt über die Türschwelle getreten: „Also, ich bin Polizeiobermeister Hinnerk Bloemer. Zunächst mal nennen Sie mir Ihren Namen, junge Frau.“ Oxana nickte stumm, brachte aber noch immer kein Wort heraus. Der Polizist legte die Stirn in Falten und führte sie ins Haus.

      Wenige Augenblicke später stürmten beide aus der Polizeistation hinaus auf die Dorfstraße. Im Laufen streifte sich Hinnerk Bloemer hastig eine Uniformjacke über. Die über seiner Schulter baumelnde Ledertasche hatte sich in einem Ärmel der Jacke verheddert. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er lief direkt auf sein mit einer Kette gesichertes Dienstfahrrad zu und versuchte, das Vorhängeschloss zu öffnen, dann hielt er inne und sah hinüber zu Oxana, die vor ihrem Auto stand und auf ihn wartete. Er ließ das angekettete Fahrrad stehen und lief zu ihr.

      Als sie das Anwesen der de Groots betraten, entdeckte Oxana sofort, dass Erik noch immer auf der Wiese kniete. Auf der käsigen Haut leuchteten hektische rote Flecken. Sein Anzug und seine Schuhe waren durchnässt und mit Dreck beschmiert. Vor ihm hatte sich Wim unterwürfig auf den Rücken gelegt und ließ sich von Erik den Bauch graulen. Der Dorfpolizist war zunächst in Richtung des noch immer brodelnden und dampfenden Whirlpools geeilt. Doch bevor er ihn noch erreichen konnte, verlangsamten sich seine Schritte, bis sie schließlich ganz zum Stilstand kamen.

      „Scheiße!“ Das Wort platzte einfach aus ihm heraus.

      Er leckte sich über die trockenen Lippen. Entsetzt von dem Anblick bewegte er sich krampfartig, wendete aber seinen Blick vom Pool nicht ab, sondern blieb einfach nur wie gebannt davor stehen. „Das kann nicht wahr sein.“ Er artikulierte seine Worte nicht richtig, eins floss ins andere über. Dann aber presste er ein Taschentuch vor den Mund und stammelte: „Mein Gott! Das - ist - ist ja - furchtbar!“ Hinnerk Bloemer spürte ein Brennen in der Kehle, das durch die ätzende Luft noch verstärkt wurde. Ein Würgereiz stieg auf. Sein Pflichtgefühl sagte ihm zwar, dass er unverzüglich seinen Vorgesetzten im Polizeikommissariat Vechta über den grausigen Fund informieren sollte, aber noch bevor er sein Handy aus der Hosentasche fingern konnte, musste er sich übergeben.

      8

      Das Büro wirkte verwahrlost. Ein mit Dokumenten überladener Metallschreibtisch stand vor einem Fenster, das auf einen Parkplatz hinausging. Davor ein Drehstuhl mit rissigem Lederimitat. Kai Bahlmann nippte nervös an seinem Getränk. Der Kaffee war stark und hatte einen leicht bitteren Nachgeschmack. Sein zerknittertes Gesicht und die dunklen Augenränder bedeuteten, dass er vergangene Nacht schlecht oder überhaupt nicht geschlafen hatte. Der 51-jährige Polizeioberrat und Leiter des Polizeikommissariats Vechta hatte seinen Dienstposten erst vor kurzer Zeit angetreten. Er war zuvor Chef des Streifen- und Einsatzdienstes in Osnabrück gewesen, aber nach dem erfolgreichen Abschluss eines Studiums hatte er den Wechsel in den gehobenen Dienst geschafft. Die ersten drei Arbeitswochen waren auch erwartungsgemäß ruhig und beschaulich verlaufen. Bis zum gestrigen Abend. Genau 18 Uhr 35 traf die Meldung ein: Gleich zwei Straftäter waren aus den hiesigen Haftanstalten ausgebrochen und befanden sich auf der Flucht.

      Seit den gestrigen Abendstunden waren nahezu alle seine Beamten im Außeneinsatz. Er hatte veranlasst, dass Straßensperren errichtet und der ganze Bus- und Bahnverkehr kontrolliert wurde. Eine Hundestaffel der Polizeidirektion Cloppenburg/Vechta war unterwegs und er hatte zusätzlich aus den angrenzenden Landkreisen weitere Beamte und Einsatzfahrzeuge angefordert. Unterstützung sollte die Polizeiaktion dabei auch aus der Luft erhalten. Ein mit einer Wärmebildkamera ausgestatteter Polizeihubschrauber sollte so bald wie möglich im Einsatzgebiet eintreffen.

      Ihm fehlte im Augenblick die Kraft, um sich über weitere Vorgehensweisen Gedanken zu machen. Er strich sich mit einer Hand über die schmerzenden Schläfen. Sein Vorgänger hatte ihn noch vor seinem Amtsantritt ausdrücklich davor gewarnt, diesen Job nicht zu unterschätzen. Immerhin gäbe es gleich zwei Justizvollzugsanstalten in der Stadt, die nicht gerade harmlose Insassen beherbergten. Dies wären keine Wellness-Oasen, sondern