Groningen. Vor dem Zelt-Pavillon wimmelte es nur so von Uniformierten. Aus der Mitte des blauen Pulks ragte der Kopf des Oldenburger Polizeipräsidenten Joachim Radunski heraus, der gerade ein Podium bestieg und irgendetwas über Lautsprecher ankündigte. Als sie sich dem Pavillon genähert hatten, entdeckten sie auch eine blonde Frau, die offenbar Amélie Kuperus sein musste. Sie war wie eine Bienenkönigin von ihren niederländischen Kollegen umringt, die deutlich an den grellleuchtenden gelben Streifen auf ihren Uniformen zu erkennen waren. Amélie Kuperus trug ein dunkelblaues Käppi, was sogar recht chic wirkte. Sie war vielleicht Mitte 40, hatte ein markantes aber freundliches Gesicht und trug eine auf Taille maßgeschneiderte Uniform.
„Schon knuffig, unsere Nachbarn“, sagte Robert. „Das Uniformmodell ‚bewaffneter Briefträger‘ hat sich dann wohl durchgesetzt.“ Jan grinste. Er kannte längst Roberts tiefsitzende Abneigung gegenüber jeglicher Uniformierung.
Polizeipräsident Radunski sprach gerade in ein Mikrofon und verkündete voller Begeisterung den Marktbesuchern, dass der Polizei in Niedersachsen gemeinsam mit der Regiopolitie Groningen nun sehr bald mit einem neuentwickelten automatischen Kennzeichen-Lesegerätes ein wirkungsvolles Instrument zur Verfügung stehe, das im Kampf gegen die grenzübergreifende Kriminalität zum Einsatz kommen werde. Dabei deutete er auf ein elektronisches Gerät, das einer herkömmlichen Radarfalle sehr ähnlich sah. Dann hielt Radunski inne, so als erwarte er, dass sich ein Applaus seiner wenigen Zuhörer einstellen würde. Aber niemand rührte auch nur eine Hand.
Er versuchte, seine Würde wiederzufinden, indem er sich das Haar zurückstrich und demonstrativ ein Lächeln zeigte. Dann forderte er seine niederländische Kollegin mit einem Handzeichen auf, zu ihm aufs Podium zu kommen. Als er jedoch bemerkte, dass Amélie Kuperus keinerlei Anstalten machte, setzte er seine Rede unbeirrt fort: „Die Funktionsweise dieses High-Tech-Gerätes ist ebenso kompliziert wie effektiv: Eine Videokamera scannt die Kfz-Kennzeichen der kontrollierten Fahrzeuge ein und gleicht sie in Bruchteilen von Sekunden mit den Fahndungscomputern in beiden Ländern ab. Sollte ein gesuchtes Fahrzeugkennzeichen, das in den Fahndungslisten registriert ist, auf diese Weise entdeckt werden, erhält die Besatzung des Streifenwagens ein Signal auf einem Bildschirm und kann blitzschnell erkennen, aus welchem Grund das Fahrzeug ins Visier genommen worden ist.“
Er hob beide Arme, als wolle er mit dieser Geste versuchen, seine Zuhörer in die verheißungsvollen Segnungen dieser technischen Meisterleistung einzuweihen. „Ich verspreche Ihnen, liebe Oldenburger Bürgerinnen und Bürger: Drogendealer, Autoschieber oder Bankräuber werden es zukünftig noch schwerer haben, sich dem langen Arm des Gesetzes zu entziehen.“
4
Die vergangenen Tage waren noch sehr klar und sonnig gewesen, doch in der vergangenen Nacht hatte ein heftiger Dauerregen eingesetzt.
Oxana hatte vor fünf Monaten einen Job als Haushaltshilfe im Landhaus der de Groots angenommen. Sie hatte zuvor unzählige Bewerbungen geschrieben, aber immer nur Ablehnungen erhalten. Dann entdeckte sie eines Tages diese Anzeige in der Zeitung: Haushaltshilfe dringend gesucht. Und hatte sich sofort gemeldet.
Sophia de Groot war eine attraktive Frau, Mitte vierzig, gepflegt, intelligent und gebildet, aber nicht eingebildet oder voreingenommen. Sie fanden sich beide gleich beim ersten Vorstellungsgespräch sympathisch. Sophia hatte ihr erzählt, dass schon einige Bewerberinnen vor ihr dagewesen wären, aber die meisten von ihnen hätten recht schnell Desinteresse gezeigt, besonders nachdem sie das ganze Anwesen besichtigt hätten. Vor allem die sumpfige Umgebung wäre wohl daran schuld gewesen, hatte ihr Sophia de Groot gesagt. Das Anwesen der Familie bestand hauptsächlich aus einem renovierten Bauerngehöft, das von drei Seiten mit einem parkähnlichen Grundstück umsäumt war. Es lag mitten im Goldenstedter Moor, einem 640 Hektar großen Naturschutzgebiet und zählte zu den größten zusammenhängenden Moorgebieten Deutschlands. Frau de Groot hatte ihr auch erklärt, dass sich etwa zwei Drittel des angrenzenden Umlandes noch immer in unkultiviertem Urzustand befänden. Sie schwärmte von der noch nahezu unberührten Natur. Oxana fand das alles sehr reizvoll. Sie war selbst in der Nähe eines Moores aufgewachsen, das lag allerdings einige tausend Kilometer weit entfernt, mitten in Sibirien.
Ihre Chefin legte vor allem Wert auf Pünktlichkeit. Heute würde sie auf jeden Fall zur vereinbarten Zeit bei den de Groots eintreffen.
Nachdem sie mit ihrem Kleinwagen von der Landesstrasse 881 rechts in Richtung Arkeburg abgebogen und anschließend einige Minuten die wellige und mit Pfützen übersäte Straße entlang gefahren war, tauchten plötzlich hinter ihr im Rückspiegel zwei Autoscheinwerfer auf, die sie zunächst in größerer Entfernung bemerkte. Die Nebenstraße führte durch flaches Weideland und an einzelnen Wäldchen vorbei. Doch dann wurde aus der befestigten Straße ein Sandweg, der direkt zum Goldenstedter Moor hinführte. Bereits nach wenigen Minuten hatte sich der Pkw ihr soweit genähert, dass sie die auf und ab schwenkenden Scheinwerfer des Wagens zu irritieren begannen. Als der Wagen endlich so dicht hinter ihr aufgefahren war, dass die Lichter sie nicht mehr im Rückspiegel blendeten, erkannte sie die schemenhafte Kontur eines Mannes. Er saß am Steuer eines dieser geländegängigen Jeeps, denen eine solche schlechte Wegstrecke weniger Probleme bereitete als ihrem Fiat Punto. Sie klammerte sich am Lenkrad fest und steuerte ihren Kleinwagen soweit wie möglich nach rechts, so dass ihre beiden rechten Wagenräder bereits über die Grasnarben holperten. Als der Jeep kurz darauf an ihr vorbeizog, warf ihr der Fahrer einen freundlichen Blick zu und hob seine rechte Hand, als wollte er sich mit dieser Geste für ihre freundliche Umsichtigkeit bedanken. Sie nickte kurz zurück, konzentrierte sich dann aber wieder auf die Unebenheiten der Wegstrecke. Ein Schwall Wasser spritzte vor ihr aus einer der Pfützen auf und ein schlammiges Gemisch aus Torf, Sand und Lehm wurde gegen die Windschutzscheibe ihres Wagens geschleudert. „Das hat man nun davon“, murmelte Oxana ärgerlich und schaltete sofort den Scheibenwischer auf die nächsthöhere Intervallstufe. Aber die Wischblätter überzogen gleich mit der ersten Drehbewegung die gesamte Windschutzscheibe mit einem Schmutzfilm, der wie ein undurchdringlicher Schleier die Durchsicht einen Moment lang nahezu unmöglich machte. Erst nachdem sie kurz gestoppt hatte und die Reinigungsflüssigkeit aus der Sprühvorrichtung eine erste Wirkung zeigte, hörten die beiden Wischblätter auf über die Glasoberfläche zu kratzen. Jetzt konnte sie auch wieder die roten Rücklichter des Wagens erkennen, der sie gerade überholt hatte. Der Jeep trug ein niederländisches Kennzeichen und Oxana wusste sofort, dass sie beide das gleiche Ziel haben würden. Sie erinnerte sich daran, dass Sophia de Groot erst vor wenigen Tagen davon gesprochen hatte, dass ihr Sohn Erik aus Groningen zu Besuch kommen würde. Dies musste er sein, Erik de Groot, von dem sie schon so viel gehört hatte und dessen Foto erst vor ein paar Wochen in der Zeitung abgebildet war. Sie hatte den Artikel zufällig beim Staubwischen in der Diele des Landhauses entdeckt und ihn flüchtig gelesen. Daher wusste sie, dass Erik zukünftig einen geschäftlichen Bereich der Firma seines Vaters übernehmen und leiten sollte.
Im morgendlichen Dämmerlicht, das über der Moorlandschaft lag, herrschten Brauntöne vor und die Gebiete links und rechts des Weges wurden zusehends feuchter, die Bäume immer kleiner und verkrüppelter. Oft waren nur abgestorbene Stämme zu sehen. Wie würde sie eigentlich diesen Weg bei Frost und Glatteis bewältigen? Normalerweise fuhr sie mit dem Fahrrad zweimal wöchentlich diese Strecke. Bei diesem Mistwetter hätte sie es heute mit dem Rad erst gar nicht bis hierher geschafft. Was aber, wenn erst alles zugefroren und vereist wäre? Würde sie es überhaupt mit dem Wagen bis zum Anwesen der de Groots schaffen? An die bevorstehenden Wintermonate hatte sie tatsächlich noch nie gedacht. Es gab ja nicht einmal eine Busverbindung von Vechta bis in diese abgeschiedene Gegend.
In den vergangenen Tagen war allerdings noch nichts von einem Wintereinbruch zu spüren gewesen. Im Gegenteil, es herrschten Temperaturen um die 10 Grad Celsius. Zwar hatte der Wetterbericht gestern Abend ein heranziehendes Sturmtief mit orkanartigen Böen vorhergesagt, dessen Vorboten sich bereits mit tief hängenden und schnell dahinziehenden Wolken ankündigten; auch gab es schon jetzt vereinzelte Windböen, die über die kahlen Felder jagten und ihrem alten Fiat heftig zusetzten. Aber mit sibirischen Winterverhältnissen, wie sie sie kannte, hatte das alles nichts zu tun.
Sie musste plötzlich lächeln, als sie sich erinnerte, welche frostigen Temperaturen sie als Kind in