Lene Levi

Nordwest Bestial


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Ein lauwarmer Luftzug durchströmte sofort das Innere des Jeeps. „Es ist trotzdem sehr merkwürdig”, stellte Oxana fest und warf einen Blick hinüber zum Haus. „Wenn ihre Eltern mit dem Hund draußen im Moor unterwegs wären, hätten sie doch sicher ihre Gummistiefel angezogen. Sie stehen aber dort unter dem Vordach neben der Haustür.“

      Er beugte sich vor und redete mit leiser Stimme: „Stimmt. Ich verstehe das auch nicht.“

      „Außerdem hat mich ihre Mutter heute für 8 Uhr bestellt. Jetzt ist es schon fast 30 Minuten nach 8. Das ist ungewöhnlich. Ich meine, sie legt immer großen Wert auf Pünktlichkeit. Irgendwas passt da nicht zusammen.”

      Er wiegte den Kopf. „Jetzt, da Sie es so sagen, fange ich auch an, mir Sorgen zu machen. Ich bin extra heute ganz früh in Groningen losgefahren, da wir heute morgen einen wichtigen Notartermin vereinbart haben, der allerdings schon in einer halben Stunde stattfinden soll.” Er rieb sich bedächtig das Kinn. „Was meinen Sie? Was sollten wir unternehmen?”

      Oxana sah auf das Mobiltelefon, das an der Armatur des Jeeps in einer Halterung steckte. „Haben Sie es schon einmal damit versucht?” Er atmete ein, und sein Puls schlug schneller. Eilig betätigte er die Schnellwahltaste. Aus der Freisprechanlage ertönte die akustische Signalabfolge der gespeicherten Rufnummer. Dann hörten sie ein Freizeichen und im nächsten Augenblick vernahmen sie einen Klingelton, der trotz der Regentropfen, die unablässig auf das Autodach trommelten, bis zu ihnen vordrang. Er kam direkt aus dem Haus. Erik ließ es so lange klingeln, bis endlich der Anrufbeantworter ansprang und sich die Stimme seines Vaters vom Band meldete. Dann sprach Erik nach dem Piepton: „He! Wo seid ihr?“, aber niemand nahm den Hörer ab.

      „Versuchen Sie es mal mit dem Mobilanschluss. Falls beide tatsächlich unterwegs sein sollten, haben sie vielleicht ein Handy dabei.”

      Er zögerte kurz. „Obwohl ich weiß, dass mein Vater Mobiltelefone hasst, ist es vielleicht doch einen Versuch wert.” Er suchte die Nummer im Speicher und drückte dann erneut auf die Verbindungstaste.

      Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als würde durch die geschlossene Wolkendecke ein erster zaghafter Lichtstrahl der aufgehenden Sonne dringen, doch dann fiel alles wieder in die Dämmerung zurück.

      Beide warteten noch einige Sekunden lang, aber auch diesmal nahm niemand ab.

      „Mir ist da gerade was eingefallen.” Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Ist Ihnen bei der Herfahrt nicht auch dieser merkwürdige Lichteffekt hinter dem Haus aufgefallen? Vielleicht sind Ihre Eltern beide draußen auf dem Grundstück und können deshalb keins der Klingelzeichen hören.”

      Er betrachte sie und überlegte. „Ja, da war was hinter dem Haus, irgend so ein diffuses Leuchten.”

      Sie öffnete die Wagentür. „Kommen Sie, wir schauen nach.”

      Oxana ging voran über den Hof und näherte sich dem leer stehenden Hundezwinger. Als sie den vergitterten Verschlag öffnete, drehte sie sich um und gab Erik ein Handzeichen. „Der Zwinger hat auf der Rückseite eine zweite Tür, sie führt direkt zum hinteren Grundstück. Folgen Sie mir einfach, aber stolpern Sie nicht über den Fressnapf.”

      Im Zwinger roch es nach fettigem Hundehaar und feuchtem Sägemehl, aber in dem Augenblick, als Oxana die Hintertür aufstieß, schlug ihnen ein beißender Ammoniakgeruch entgegen. Erik schniefte und hielt sich sofort eine Hand vor den Mund. „Mein Gott, das ist ja ätzend. Das stinkt wie ...” Er hielt den Atem an, um sich wieder zu fangen. Oxana war jedoch bereits ein paar Schritte auf das Grundstück vorausgeeilt. Sie sah hinter immergrünen Büschen und Sträuchern jetzt ganz deutlich diesen Lichtschimmer, dessen Ursprung zu ebener Erde die ganze Rückseite des Hauses anstrahlte und weiter hinauf die Baumstämme der alten Eichen in eine gespenstige anmutende Parkkulisse verwandelte. Je mehr sie sich der Lichtquelle näherten, umso deutlicher vernahmen sie jetzt auch ein sprudelndes Wassergeräusch und das gequälte Summen eines Elektromotors. Sie spürte es fast körperlich, als hätte etwas Unangenehmes ihre Haut gestreift.

      Erik ging einige Meter hinter ihr. Er begann unerwartet die Vornamen seiner Eltern zu rufen. Aber er erhielt keine Antwort. Oxana blieb ruckartig stehen.

      „Es kommt aus dem Whirlpool”, rief sie ihm erschrocken zu.

      Eine Windböe erfasste in diesem Augenblick die kahlen Äste der umstehenden Mooreichen und im Licht des Whirlpools mischten sich nun auch Schwaden aufsteigenden Wasserdampfes. Gleichzeitig trug der Wind auch ein leises Hundewimmern mit sich. Der Jauchegestank schien sich mit Wrasengeruch zu vermengen, der Oxana irgendwie an eine Garküche erinnerte.

      „Warten Sie bitte hier”, befahl Erik aufgeregt. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ich sollte zuerst sehen, was da vor sich geht.” Mit diesen Worten ließ er Oxana hinter sich und eilte mit großen Schritten auf den verdeckten Whirlpool zu.

      Sekunden später hörte Oxana seinen Schrei. Sie rannte in die gleiche Richtung und sah, wie Erik nahezu versteinert vor dem brodelnden Poolbecken stand. Vor ihm der belgische Schäferhund in Abwehrhaltung, als müsste er sein Frauchen und Herrchen vor ungebetenen Eindringlingen beschützen. Aus dem anfänglich noch leisen Gewinsel war jetzt ein bedrohliches, zähnefletschendes Knurren geworden. Aber dies schien nicht der eigentliche Grund seines Entsetzensschreies gewesen zu sein. Sein Blick war wie erstarrt auf die Mitte des Beckens gerichtet. Als Oxana näherkam, sah sie, dass sich am Rand des Pools eine schmierige Fettschicht abgesetzt hatte. Rings um den ganzen Poolrand hatten sich daran lange dunkle Haare festgesetzt, die sich teilweise zu verfilzten Knäuel zusammengedreht hatten.

      7

      Erik de Groot hatte es zwar gesehen, aber er vermochte mit seinem intuitiven Verstand nicht zu erfassen, was er im Inneren des Poolbeckens schemenhaft wahrgenommen hatte. Durch die Ansaugkraft, die intervallweise von der Umlaufpumpe des Whirlpools angefacht wurde, und dem Ausstoß von Flüssigkeit, die über die Einspritzdüsen in den Pool zurückgedrückt wurde, bewegten sich in der dampfenden Jauche zwei Körper auf und nieder. Dieses stoßweise Auf- und Abtauchen hatte ihn in einen traumatischen Zustand versetzt. Wie in Trance wankte er zunächst in Richtung der gläsernen Terrassentür. Als er aber bemerkte, dass diese verschlossen war, kehrte er um und irrte weiter in die entgegengesetzte Richtung. Er glaubte, eine Stimme zu hören, aber sie kam von weit her. Qualvolle Sekunden spürte er fast gar nichts mehr. Seine Augen starrten ins Leere und er taumelte ziellos über die regendurchtränkte Wiese. Wim, der belgische Schäferhund seiner Mutter, tobte aufgeregt neben ihm her und bellte unablässig, doch Erik schien ihn nicht wahrzunehmen.

      Oxana, die einige Meter hinter ihm hergelaufen war, blieb stehen. „Herr de Groot! Wir müssen die Polizei rufen! - Wir brauchen Hilfe! Verstehen Sie?!” Doch Erik reagierte nicht. Ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf seinem Gesicht aus, dann knickte sein Oberkörper nach vorn und er sank auf die Knie. Oxana versuchte es erneut: „… die Polizei, ... die Polizei, verstehen Sie?” Ihre Stimme klang diesmal tonlos, war kaum mehr als ein Flüstern. Erik seufzte tief, neigte den Kopf seitwärts, reagierte aber nicht. Wim versuchte unterwürfig, Eriks Gesicht zu lecken, doch er sträubte sich und schob den Hund mit einer abwehrenden Handbewegung von sich. Plötzlich jagte Wim zum Haus und platzierte sich erneut in die Nähe des Outdoor-Whirlpools. Oxana vermied jeden weiteren Blick in diese Richtung. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief den Weg zurück. Hastig eilte sie über den Hof, setzte sich in den Fiat und suchte nach ihrem Mobiltelefon. Erst jetzt fiel ihr ein, dass es gleich in der Nähe, in der Ortschaft Goldenstedt, eine kleine Polizeistation gab. Sie war schon des Öfteren daran vorbeigefahren, wenn sie Einkäufe für ihre Chefin zu erledigen hatte. Oxana startete den Motor und fuhr los.

      Als sie den Pastor-Albrecht-Weg erreicht hatte, stoppte sie rasant den Wagen, sprang aus dem Fiat, lief die Stufen zum Eingang hinauf und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Ihr Blick fiel auf ein Hinweisschild mit den Öffnungszeiten: montags bis freitags von 07.30 Uhr bis 16.00 Uhr. Es müsste also ein Polizist anwesend sein, der ihr helfen könnte, dachte sie. Aber es blieb alles ruhig. Sie drückte auf die Klingel und pochte nochmals mit der Faust gegen die Tür, bis endlich ein kleiner untersetzter Polizeibeamter öffnete und sie verwundert