Thomas Riedel

Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns


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zwei Kutschen standen. Von den dazugehörigen Pferden war nichts zu sehen. Er schüttelte leicht den Kopf. Den ganzen Nachmittag war er kaum hundert Yards von diesem Ort entfernt gewesen, aber nie hatte er die Richtung eingeschlagen, die ihn hierher geführt hätte.

      »Bitte weiter!«, befahl Greenwood hinter ihm. »Gehen Sie die Treppe zur Veranda hinauf, und öffnen Sie die Haustür.«

      Auf der Freitreppe blieb Finch abermals kurz stehen. Zu beiden Seiten der Haustür gab es große Fenster mit Blick auf den See. An jedem Fenster bemerkte er Gesichter, die ihn fragend anstarrten. Als sie merkten, dass er sie gesehen hatte, zogen sie sich zurück. Es waren angsterfüllte, angespannte Gesichter gewesen.

      ***

      Kapitel 2

      Die Haustür erwies sich als unverschlossen, als Finch die Klinke herunterdrückte. Demnach hatte er sich geirrt, denn er war der Auffassung gewesen, an den Fenstern Gesichter von Gefangenen zu sehen. Aber als er sich gleich darauf im großen getäfelten Salon umblickte, spürte er sofort die Spannung, die elektrisierend in der Luft lag.

      Im Zimmer befanden sich acht Menschen, vier Damen und vier Herren. Ihre Haltung hatte für ihn etwas Lächerliches an sich, etwas Gestelztes, gerade so, als ob sie noch unmittelbar zuvor einen Kriegsrat abgehalten und beim seinem Anblick schnell eine unnatürliche Stellung angenommen hätten, die ganz harmlos auf ihn wirken sollte.

      Der eine, ein dunkler, sportlich aussehender Mann lehnte am Sims des mächtigen Kamins und stopfte mit behänden Fingern seine Pfeife. Ein anderer, der eine große schwarze Hornbrille trug, machte sich an einer fahrbaren Bar mit einer Flasche zu schaffen. Der dritte war hochgewachsen und recht schlaksig – er hatte seinen Arm schützend um ein jüngeres Mädchen gelegt. Der vierte, der eine Jockeyfigur hatte, saß mit hochgezogenen Beinen in seinem Sessel – ein bösartiges Lächeln enthüllte seine schiefen, tabakfleckigen Zähne. Die eine Dame kehrte der Szene den Rücken – eine andere schien in einem Sessel gegenüber dem Jockeymann zu schlafen.

      Die beherrschende Gestalt im Salon war jedoch die vierte Frau, die ein paar Schritte auf ihn zugemacht hatte und nun abwartend vor ihm stand. Ihr rötlichgoldenes Haar war klassisch hochgesteckt. Sie trug ein schlichtes, aber durchaus teures, graues Kleid. Ihre Augen waren die tiefsten veilchenfarbenen, die er jemals gesehen hatte. Trotz ihres strengen, lehrerinnenhaften Kleides wirkte sie bestrickend weiblich. Sie stand mit leicht gespreizten Beinen vor ihm, als ob sie den Weg versperren und die anderen beschützen wollte.

      Sie alle machten auf ihn den Eindruck von Schauspielern, die in einem Stück auf den Auftritt eines anderen Darstellers warteten, dessen Stichwort gerade gefallen war. Finch kam es vor, als wäre er mitten auf die Bühne gestoßen worden, ohne eine Ahnung vom Text zu haben.

      »Das ist Mr. Finch, Dr. Finch«, sagte Greenwood von der Tür her. »Die Lady vor Ihnen, Mr. Finch, ist meine Frau Kathlyn, der Doktor hat sich stundenlang im Wald verirrt. Wahrscheinlich hat er Hunger und Durst. Willst du dich bitte um ihn kümmern?«

      »Ryan, das kannst du nicht tun!« Ihre Stimme war leise und belegt. »Dieser Mann ist ja ein Fremder, ein Außenstehender, der mit allem nichts zu tun hat.«

      »Was du nicht sagst. Ist das so?«, reagierte ihr Mann schnippisch. »Aber vielleicht kennt ihn ja einer von euch?«

      Niemand antwortete.

      »Das ist doch Wahnsinn, Ryan«, stellte sie fest. »Wir hätten irgendwie damit fertig werden können. Aber wenn du jetzt auch noch einen Fremden hineinziehst …«

      »Es ist aber geschehen«, unterbrach er sie scharf. »Kümmere dich um den Doktor, Kathlyn, und erkläre ihm die Lage, damit er keinen Fehler begeht.«

      »Ryan!«

      »Bis später«, bemerkte Greenwood noch und im nächsten Augenblick hörte Finch die Tür hinter ihm zufallen.

      Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung ging durch den Salon. Der dunkle, sportliche Mann stellte sich neben Mrs. Greenwood. Er hatte seine Pfeife zurück in die Tasche seines braunen Anzuges gesteckt.

      »Sie sind in eine höllische Lage geraten, Dr. Finch«, sagte er. »Mein Name ist Howard Lancaster. Ich bin politischer Korrespondent der ›London Times‹. Vielleicht kennen Sie meine Artikel.«

      »Leider nicht, Mr. Lancaster«, erwiderte Finch.

      »Sind Sie aus Aylesbury, Doktor?«

      »Nein.«

      »Wie sind Sie denn hierher gekommen?«, erkundigte sich Howard Lancaster.

      »Weil ich ein Trottel bin«, antwortete Finch mit einem flüchtigen Lächeln. »Ich habe seit zwanzig Jahren nicht mehr gefischt, Mr. Lancaster. Ich sehnte mich nach etwas Freiluftsport. Aber anstatt von der Brücke in der Nähe meines bequemen Hauses oder einem Bach in der Gegend zu angeln, unternahm ich einen großen Ausflug. Ich wollte wie einst als Kind zelten und zog in die Wälder. Ich hatte dazu eine dieser wunderbaren modernen Zeltausrüstungen mitgenommen. Nachdem ich eine Stunde geangelt hatte, konnte ich mein Zelt nicht mehr finden. Nach dreieinhalbstündigem Umherirren stand mir ein fremder Mann mit einem Jagdgewehr gegenüber. Das ist die ganze Geschichte meiner Dummheit, Mr. Lancaster.«

      Der große, schlaksige Mann ließ seine Gefährtin los und trat vor.

      »Die wesentliche Frage ist, wer wird Sie suchen, Doktor?«

      »Mich suchen?«

      »Wer wird sich um Sie sorgen, wenn Sie mehrere Tage nicht heimkommen?«

      »Ja, das ist wichtig«, fiel Howard Lancaster ein. »Das ist übrigens Brian Chandler, Dr. Finch.«

      »Wer wird Sie suchen?«, wiederholte Chandler eindringlich.

      »Leider kein Mensch, Mr. Chandler. Jedenfalls vorerst nicht, denn niemand wird mich vermissen. Ich bin nämlich Psychiater, und wenn ich mir Urlaub nehme, verrate ich keiner Seele meinen Aufenthaltsort … andernfalls hätte ich nie Ruhe vor meinen Patienten. Da man mich erst in vierzehn Tagen zurückerwartet, hat man also keinen Grund, vorher nach mir zu suchen.«

      »Dann ist es zu spät«, stöhnte Chandler resignierend.

      Die Frau, die bislang allen den Rücken gekehrt hatte, fuhr plötzlich herum. Sie war dunkelhaarig und von unterdrückter Lebhaftigkeit. Ihr hochroter Mund wirkte herausfordernd.

      »Ihr könnt doch alle nur reden, reden, reden!«, rief sie. »Habt ihr denn keinen Funken Mumm in den Knochen? Was für Männer seid ihr eigentlich? … Wir sollen alle umgebracht werden, und ihr redet nur! Ihr solltet lieber endlich etwas unternehmen!«

      Der Jockeymann richtete sein boshaftes Lächeln auf sie.

      »Warum unternimmst du denn dann nichts, liebe Victoria? Dein Geständnis würde uns alle befreien.«

      Der Mann mit der Hornbrille wandte sich von der fahrbaren Bar ab.

      »Halt den Mund, Nicolas! Ich habe bald genug von dir.«

      »Deine Geduld ist wahrlich bewundernswert«, entgegnete Nicolas trocken. »Ich hatte dich schon vor zwanzig Jahren satt, Robert.«

      »Ich fände es einen guten Gedanken«, fiel Finch ein, »wenn mir jemand erzählen würde, was hier eigentlich los ist.«

      Kathlyn Greenwood, die sich bislang still verhalten hatte, schien sich plötzlich der unmittelbaren Lage zu erinnern.

      »Entschuldigen Sie, Doktor Finch, Ryan hat sicher recht. Sie müssen müde und hungrig sein.«

      »Gewiss, ich bin ein wenig erschöpft«, bekannte Finch, »aber offen gestanden: meine Neugier ist sehr viel größer als mein Appetit.«

      »Unsere Gastfreundschaft muss auf Sie etwas befremdlich wirken, Dr. Finch«, gestand Kathlyn, »aber immerhin können wir Ihren Hunger und Durst stillen. Wenn Sie mit mir kommen wollen …«

      »Wie wäre es mit einem Gläschen zur Begrüßung?«, erkundigte sich Howard Lancaster.

      Finch ließ seinen Blick zur gut sortierten Bar wandern.