Thomas Riedel

Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns


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weiter aufzuschieben. Wir dachten immer noch, es handle sich um seine Kandidatur für das ›House of Lords‹, und ermunterten ihn, weiterzusprechen. ›Seit sechs Jahren hat sich dieser Augenblick zusammengebraut‹, begann er dunkel. ›Vor sechs Jahren, nach dem Tod meines Vaters, wurde mir unter der Hand ein Richteramt am Old Bailey angeboten. Ich wünschte es mir, bei Gott, wie habe ich es mir gewünscht. Für meine Laufbahn als Jurist hätte es ein großes Prestige bedeutet, und ich fühlte mich auch dazu berufen. Ich bat um ein paar Tage Bedenkzeit, weil ich die Sache mit Kathlyn besprechen wollte. Meine Frau bestärkte mich darin, dass Angebot anzunehmen. Aber am nächsten Tag erhielt ich einen Brief.‹« Sie zögerte und sah Doktor Finch an. »Ich versuche, seine Worte so genau wie möglich wiederzugeben, aber natürlich kann ich seinen Ton nicht nachahmen … Ich meine die schreckliche Bitterkeit, die in seiner Stimme war. Etwas, das ich noch nie zuvor gehört hatte.«

      »Ich verstehe«, gab Finch zurück. Er hatte das Essen, das vor ihm stand, noch nicht berührt und stattdessen aufmerksam zugehört. Jetzt aber hob er sein Glas an die Lippen und nippte wieder an seinem Whisky.

      »Er sagte also: ›Am nächsten Tag erhielt ich einen Brief. Den Inhalt kann ich auswendig.‹ Der Brief lautete ungefähr folgendermaßen: ›Mein armer Ryan, es wird Zeit für Dich, die Schuld zu bezahlen. Man hat Dir das Richteramt angeboten. Das wäre eine große Ehre für Dich. Aber auf Ehrenbezeugungen musst Du verzichten. Jetzt und immerdar. Ich rate Dir, das Angebot abzulehnen, wenn Du nicht willst, dass ich unser Geheimnis der Welt im allgemeinen und der Anwaltschaft der britischen Krone im besonderen verrate.‹« Sie schaute Lancaster an. »So ähnlich war es doch, nicht wahr?«

      »Ja, ungefähr so«, stimmte Lancaster ihr zu. »Du hast es zunächst gar nicht begriffen. Ich habe noch deinen befremdlichen Blick vor Augen. Du hast ihn gefragt, wer ihm diesen Brief geschrieben hätte, und was eigentlich damit gemeint wäre. Und er …«

      »Er sagte zu mir: ›Weißt du es nicht, mein Herz?‹ Natürlich wusste ich es nicht. Er hatte mir von dem Brief nie erzählt. Wir fanden den Wortlaut sinnlos, aber mein Gatte sagte: ›Dieser Brief war nur der Anfang.‹ Er hätte dann noch mehr Briefe erhalten, mit einer dieser neuen Schreibmaschinen geschrieben und einem Poststempel aus Aylesbury. Er sagte: ›Was ich auch werden wollte … Anwalt der Krone, Syndikus der Universität und jetzt Kandidat für das Oberhaus …, jedes Mal meldete sich der Briefeschreiber. Jedes Mal riet er mir, das Amt abzulehnen.‹ Seine Stimme klang immer verzweifelter, Dr. Finch. Dann fügte er hinzu, dass das noch nicht alles wäre, sondern der Erpresser hätte ihn auf jede mögliche Weise gequält. Wenn er an einem bestimmten Tag verreisen wollte, hätte er den Befehl erhalten, seine Pläne zu ändern. Wenn er mit dem Zug fahren wollte, musste er eine Kutsche nehmen. Er meinte, irgendjemand säße im Hintergrund und ließe ihn wie eine Marionette tanzen. Er sagte, er könnte es nicht länger aushalten.«

      »Ich fragte ihn, ob man Geld von ihm gefordert hätte«, warf Lancaster ein. »Er verneinte das.«

      »Und ich wollte von ihm wissen, ob der Briefschreiber irgendwelche Drohungen geäußert hätte«, fügte Drummond hinzu. »Sie müssen wissen, Dr. Finch, Ryan hat den besten Leumund.«

      Finch stellte sein Glas mit leisem Klirren auf den Tisch zurück.

      »Trotzdem konnte er erpresst werden?«

      »Ich meine, es ist nichts Ehrenrühriges über ihn bekannt«, erklärte Drummond. »Ich kenne ihn als ausgezeichneten Rechtsanwalt … Er gilt als Zierde seines Berufs, und über sein Privatleben ist nicht einmal im Flüsterton geklatscht worden.«

      »Das stimmt, Doktor«, ereiferte sich Mrs. Greenwood. »Ich fragte, wodurch ihn der Erpresser in der Gewalt haben könnte.« Sie deutete auf die Anwesenden. »Wir alle fragten ihn. Er sah uns alle reihum mit kaltem Blick an und meinte darauf: ›Wisst ihr es nicht?‹«

      »Wir wussten es nicht! Und wir wissen es auch jetzt nicht!«, platzte Mrs. Drummond heraus.

      »Dann erfuhren wir, warum er uns das alles mitgeteilt hatte«, bemerkte Lancaster.

      »Es fiel mir auf, dass er das Gewehr in Anschlag brachte«, erzählte Mrs. Greenwood weiter. »Er sagte: ›Jetzt werde ich der Sache ein Ende machen. Ich habe keinen Lebensinhalt mehr, solange das weitergeht. Ich gestehe es offen: ich dachte schon an Selbstmord. Aber dann beschloss ich, meinen briefeschreibenden Freund mitzunehmen, wenn ich schon sterben muss. Und darum sind wir hier!‹«

      »Er hält einen von uns für den Briefeschreiber«, ergänzte Lancaster. »Als ich ihn fragte, wie er auf diesen Gedanken käme, erklärte er uns, wir wären die einzigen Menschen, die all das wissen könnten, was der Schreiber der Briefe wusste.«

      »Aber wir wissen es nicht! Keiner von uns!«, beteuerte Mrs. Drummond.

      »Dann klärte er uns auf«, fuhr Lancaster fort. »Einer von uns wäre sein Feind, sagte er, sein Todfeind … er warnte uns, es wäre kein Spiel, sondern tödlicher Ernst. Richtig bedrohlich wurde es, als er uns darauf hinwies, er habe die beiden Kutschen gebrauchsunfähig gemacht, die Pferde fortgejagt und sein Jagdgewehr wäre geladen. Dann drohte er uns, er würde jeden einfach niederschießen, wenn einer von uns versuchen sollte, es ihm wegnehmen zu wollen. Auf Hilfe von Außerhalb bräuchten wir gar nicht erst zu hoffen, niemand würde uns die Woche vermissen und nachfragen. Dann sagte er uns klipp und klar, wir wären seine Gefangenen. Wenn einer von uns Hilfe holte, würde er alle übrigen töten. Wir hätten nur die Möglichkeit, unversehrt davonzukommen, wenn wir ihm den Erpresser auslieferten. Wir hätten volle Bewegungsfreiheit, solange wir in der Nähe des Hauses blieben. Aber wenn sich einer wegrührte … na ja, das wär’s.«

      »Und Sie glauben auch jetzt noch, dass er einen Massenmord verüben würde, wenn Sie ihm nicht gehorchten?«, fragte Finch, während er langsam seine Hand nach dem Glas ausstreckte.

      »Ja«, antwortete Mrs. Greenwood.

      Nicolas Brown bedachte Finch mit einem schiefen Lächeln.

      »Sie ließen sich ja durch die vorgehaltene Waffe in dieses Haus zwingen, Doktor. Ich muss mich diesbezüglich sehr wundern, wenn Sie, wie es für mich gerade klang, annahmen, er würde das Gewehr nicht benutzen?«

      »Oh, ich dachte schon, er würde es benutzen, Mr. Brown«, gab Finch milde zurück. »Ich war davon überzeugt. Darf ich um Salz und Pfeffer bitten? Ich kann dem Truthahn nicht mehr lange widerstehen.«

      Die anderen sahen ihm mehr oder minder ungeduldig zu, während er aß.

      »Was halten Sie eigentlich von der Sache, Doktor«, konnte sich Mrs. Drummond schließlich nicht zurückhalten.

      Finch hob den Kopf und sah sie an.

      »Schwer zu sagen, Mrs. Drummond. Ich kenne keinen von Ihnen gut genug, um mir eine Meinung zu bilden. Anscheinend zweifeln Sie nicht daran, dass Mr. Greenwood es tödlich ernst meint. Sie sind ja schon seit zwei Tagen hier und haben inzwischen einiges erlebt.«

      »Was hätten wir denn tun sollen?« Mrs. Drummond ließ ihre dunkle Augen aufblitzten.

      »Nun, … vermutlich haben Sie versucht, herauszufinden, wer der Erpresser ist«, erwiderte Finch. »Ist Ihnen das geglückt?«

      »Das ist ja lächerlich!«, rief Mrs. Drummond. »Ryan gibt sich einem Wahn hin. Niemand hat ihn erpresst! Er hat ja gar nichts Böses getan.«

      Danach wollte die Gruppe wissen, wie Ryan ihn hierher gebracht hatte, und Finch schilderte seine Begegnung mit dem Mann auf dem Felsen.

      »Was immer auch an der Sache wahr sein mag«, fügte er hinzu, »Mr. Greenwood ist verzweifelt. Sie halten die Erpressungsgeschichte also für einen Wahn. Wie kommen Sie darauf, Mrs. Drummond?«

      »Weil die Geschichte lächerlich ist«, beharrte sie kategorisch.

      Finch blickte Mrs. Greenwood an.

      »Ist das auch Ihre Meinung?«

      »Nein«, entgegnete sie stirnrunzelnd. »Immerhin stimmt sie ja mit verschiedenen Tatsachen überein. Das Richteramt wurde ihm angeboten, und er lehnte es ab. Nicht anders