Thomas Riedel

Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns


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Dr. Finch.«

      Die Küche entpuppte sich als fast so groß wie das Wohnzimmer und war so vorzüglich eingerichtet, dass sie ohne weiteres einem Hotel hätte dienen können.

      »Setzen Sie sich, Doktor.« Kathlyn wies auf einen runden, seidenblanken Teakholztisch, um den viele Stühle standen. »Ich kann Ihnen Kaffee oder Tee anbieten. Es ist auch kalter Truthahn da. Oder soll ich Ihnen ein Steak braten? Sie sehen, wir haben hier alles.« Ihr Gesicht bewölkte sich ein wenig. »Alles außer einem Ausweg.«

      »Wenn ich um Kaffee und etwas Truthahn bitten darf, Mrs. Greenwood.«

      Anscheinend wollten alle dabei sein außer dem jungen Mädchen, das beim Kamin saß. Auf dem Weg zur Küche hatte Finch gesehen, dass sie tatsächlich schlief. Howard Lancaster brachte ihm ein Glas und eine Flasche Whisky, und nach ihm kamen der Mann mit der Hornbrille und die dunkle Dame.

      »Ich bin Robert Drummond«, stellte sich der Mann mit der Hornbrille vor, »und das ist meine Frau Victoria. Ich bin Anwalt und der Sozius von Ryan Greenwood.«

      Finch zog die Augenbrauen in die Höhe.

      »Unser Gastgeber ist Jurist?«

      »Ja.« Drummond setzte seine Hornbrille ab und begann sie mit einem weißen Taschentuch zu putzen. »Wir sind, soviel kann ich voller Stolz sagen, die beste Anwaltsfirma in Aylesbury.«

      »Wenn Sie alles so dramatisch behandeln«, bemerkte Finch spöttisch, »sollte man Ihre Kanzlei auch über die Grenzen von Aylesbury kennen.«

      »Sie sagten, Sie wären Psychiater«, fiel Mrs. Drummond ein, ehe ihr Mann etwas erwidern konnte. »Ist Ihnen klar, dass Ryan geisteskrank ist?«

      »Unter Geisteskrankheiten oder Geistesstörungen werden unterschiedliche Verhaltensbilder und Krankheiten zusammengefasst, die sich durch Verhaltensformen ausdrücken, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Der Ausdruck selbst, besagt zunächst einmal gar nichts, Madam«, erwiderte Finch ernst. »Darf ich Sie höflichst daran erinnern, dass ich noch gar nichts weiß?«

      In diesem Augenblick erschien Brian Chandler mit dem jungen Mädchen, um das er sich so schützend bemüht hatte. Sie war blond und trug eine Brille. Sie war ziemlich nachlässig mit einem blauen Kleid, einer weißen Bluse und einer kurzen Jacke bekleidet. Sie gehörte zu den Frauen, bei deren Anblick Finch augenblicklich dachte, dass sie in richtiger Aufmachung und ohne Brille bezaubernd aussehen könnte.

      »Das ist Miss Burdett, Nora Burdett«, stellte Chandler sie vor. »Sie ist Ryans Privatsekretärin.«

      »Und ich bin Nicolas Brown«, sagte der Jockeymann, der die Nachhut bildete. Wenn er aufrecht stand, war er nur knapp fünfeinhalb Fuß groß. Im Gegensatz zu den anderen Herren, trug er einen schlecht sitzenden grauen Anzug, billige schwarze Halbschuhe und eine Fliege, deren Farbe in den Augen wehtat. In der Hand hielt er eine Zigarette mit einer langen schwarzen Spitze.

      Kathlyn brachte eine Tasse Kaffee, einen Teller mit kaltem Fleisch, Tomatenscheiben und Käsewürfeln sowie Butter und einige Scheiben Weißbrot. Finch schenkte sich Whisky ein, trank davon und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer zurück.

      »Wenn ich jetzt freundlicherweise hören dürfte, was hier los ist …?«

      Lancaster, Drummond und Mrs. Greenwood begannen alle gleichzeitig.

      »Bitte nur einer!«, wehrte Finch ab.

      Mrs. Greenwood verständigte sich durch einen kurzen Blick mit Lancaster.

      »Mein Mann will sich bei der nächsten Wahl als Kandidat für das ›House of Lords‹ aufstellen lassen.«

      »Wollte, meine Liebe«, verbesserte Brown direkt. »Er wollte!«

      »Sei still, Nicolas«, verwies ihn Lancaster.

      »Mein Freund mit dem Jagdgewehr?«, fragte Finch ungläubig.

      »Ryans Vater war der ehrenwerte Richter Sir Terence Greenwood«, erklärte Howard Lancaster, »vielleicht der beste Jurist, den es im Commonwealth jemals gegeben hat. Ryan sollte sich bei der Neuwahl für das Parlament aufstellen lassen.«

      »Er hat die Nominierung durch die Partei aber noch nicht angenommen«, führte Mrs. Greenwood aus.

      »Deshalb kamen wir hierher«, ergänzte Robert Drummond.

      »Bitte immer nur einer!«, seufzte Finch.

      »Am besten erzählst du alles, Kathlyn«, forderte Lancaster kategorisch.

      Sie holte tief Atem.

      »Gern. Mein Mann ist ein Kandidat der ›Whigs‹, der ›Liberal Party‹, die ihm die Ernennung angeboten hat. Er erbat sich zehn Tage Bedenkzeit, die ihm auch zugebilligt wurde. Dann fasste er den Plan, uns alle hier zu versammeln. Sie müssen wissen, Dr. Finch, wir sind alle zusammen aufgewachsen – wir lebten immer in Aylesbury –, gingen zusammen zur Schule und ins College. Ich heiratete Ryan. Die anderen hier sind unsere engsten Freunde.«

      »Was für ein Privileg!«, murmelte Nicolas abfällig.

      »Sei still«, tadelte Lancaster.

      Mrs. Greenwood beachtete den Einwurf nicht.

      »Mein Mann wünschte, dass wir alle für eine Woche hierher kämen, … um die Möglichkeiten seiner Kandidatur zu besprechen, wie er sagte. Er wollte das Für und Wider mit seinen besten Freunden erörtern. Das klang vernünftig. Ryan schließt seine Kanzlei im Sommer immer für zwei Wochen. Dadurch waren Robert, Victoria und Nora ebenfalls frei. Brian hat in Aylesbury ein eigenes Geschäft, eine mechanische Werkstatt. Howard erhielt Urlaub von seiner Zeitung, weil Ryans Entschluss Stoff für einen Artikel abgegeben hätte. Rhona hat Zeit in Hülle und Fülle.«

      »Rhona?«, wiederholte Finch.

      »Rhona McDermid«, erklärte Mrs. Greenwood. »Sie sahen sie vorhin im Salon.«

      »Wo sie ihren Rausch ausschläft«, ergänzte Brown spöttisch. »Was mich anbelangt, so finde ich immer Zeit, wenn man mir zu essen und zu trinken gibt.«

      »Wir kamen vor drei Tagen hierher«, fuhr Mrs. Greenwood fort. »Wir alle lieben dieses Haus, das Ryans Vater gebaut hat. Wir waren schon als Kinder immer hier. Es hat inzwischen eine eigene Stromversorgung bekommen und ist mit allem modernen Komfort ausgestattet ...«

      »Außer einem dieser neumodischen Fernsprechapparate«, warf Mrs. Drummond schneidend ein.

      »Es sollte weiterhin ein ungestörter Platz bleiben«, erklärte Mrs. Greenwood. »Außerdem hätte man meilenweit Telefonmasten aufstellen müssen.«

      »Sie kamen also alle hierher, um über die politische Laufbahn Ihres Herrn Gemahls zu sprechen«, fasste Finch kurz zusammen.

      »Ja. Am ersten Abend waren wir sehr fröhlich … Ryan ganz besonders. Manchmal ist er schlechtgelaunt und in sich gekehrt, aber am Samstag war er bis zum Abendessen in seiner besten Stimmung.« Sie holte tief Atem. »Nach dem Essen geschah es dann.«

      »Ich sollte vielleicht erwähnen«, unterbrach Lancaster, »dass Ryan hier draußen eine kleine Waffensammlung hat. Vor dem Essen ging ich durch die Waffenkammer zur Küche, um mir einen Tee zu holen. Dabei fiel mir auf, dass alle Waffen verschwunden waren. Ich fragte ihn deswegen, und er sagte, da jetzt keine Jagdsaison wäre, hätte er die Waffen einem Büchsenmacher zum Instandsetzen und Reinigen geschickt.«

      »Nach dem Essen gingen wir alle in den Salon um Tee zu trinken«, erzählte Mrs. Greenwood weiter. »Wir saßen am Kamin. Dann verschwand mein Mann für einen Augenblick, und als er zurückkam, hatte er ein Jagdgewehr bei sich. Howard erkundigte sich danach, und Ryan sagte, es wäre das letzte Geschenk seines Vaters. Er setzte sich auf den großen Tisch hinter dem Sofa, nahm das Gewehr auf den Schoß und meinte, er wolle eine Rede halten. Wir dachten natürlich, er würde über Politik sprechen.«

      »Er drohte ja auch nicht mit dem Gewehr«, bemerkte Lancaster. »Er hatte es einfach bei sich, als ob er uns die Waffe zeigen wollte.«

      »Dann hielt er seine Rede«,