Thomas Riedel

Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns


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er änderte tatsächlich immerzu seine Pläne«, pflichtete Robert Drummond ihr bei. »In der Kanzlei amüsierte man sich schon darüber. Immer wieder mussten bereits getroffene Reisevorbereitungen in letzter Minute umgeworfen werden.«

      »Hat er sich zu diesen Änderungen geäußert?«, fragte Finch, der aufmerksam zugehört hatte.

      »Nein. Das hätte er nicht nötig, hat er mir einmal gesagt, schließlich sei er immer noch sein eigener Herr. Zumeist hieß es nur: Ich habe es mir anders überlegt.«

      »Es kam aber auch vor, dass er ohne ersichtlichen Grund ein Mandat niederlegte«, meldete sich Nora Burdett jetzt zum ersten Mal zu Wort, »nachdem er den Fall unmittelbar zuvor erst übernommen hatte.«

      »Demnach könnte die Geschichte, die er Ihnen erzählt hat, also mit den Tatsachen übereinstimmen«, bemerkte Finch. »So wie ich Sie verstanden habe, kennen Sie ihn alle schon seit Ihrer Kindheit. Gibt es möglicherweise irgendetwas Ungeklärtes in seinem Leben? Vielleicht eine Zeitspanne, von der Sie nichts wissen?«

      »Nichts«, antwortete Mrs. Greenwood.

      »Ein Rechtsanwalt schafft sich bei einem Prozess manchmal Feinde«, fügte Finch ergänzend hinzu.

      »Aber wie könnte ein Mandant ihn erpressen?«, erwiderte Drummond zweifelnd. »Ich kann mich an keinen einzigen Prozess erinnern, hinter dem unsere Kanzlei nicht hundertprozentig hätte stehen können.«

      »Außerdem vergessen Sie dabei, dass der Erpresser einer von uns sein soll, Doktor«, erinnerte Brown lächelnd.

      »Falls die Geschichte, die er Ihnen erzählt hat, keine Erfindung ist«, versetzte Finch.

      »Schauen Sie, wir haben es uns überlegt«, sagte Drummond. »Seit seinem zehnten Jahr hat es in Ryans Leben kaum einen Tag gegeben, an dem nicht mindestens einer von uns mit ihm zusammen war. Wir gingen zusammen zur Schule, und wir spielten miteinander. Howard studierte mit ihm. Kathlyn heiratete ihn sogar.«

      Finch wandte sich an Greenwoods Frau.

      »Der Brief, den Sie zitierten, Mrs. Greenwood, enthielt die Drohung einer Anzeige beim Anwalt der Krone. Das lässt unwillkürlich an ein Verbrechen denken.«

      »Seit zwanzig Jahren gab es in Aylesbury kein unaufgeklärtes größeres Verbrechen«, versicherte Drummond. »Höchstens kleinere Diebstähle. Ryan gehört zu den reichsten Männern in Großbritannien, so dass er es nicht nötig hat, einen Menschen zu berauben.«

      »All das schließt doch aber nicht aus, dass ein Unschuldiger für ein Verbrechen büßen musste, während sich Ihr Freund seiner gerechten Strafe entzog.«

      »Das ist doch reiner Blödsinn!«, schnaubte Drummond.

      »Nun gut, …«, beschwichtigte Finch schulterzuckend, »betrachten wir es einmal aus einem anderen Winkel. Was geschah am Samstagabend, nachdem er seine Erklärung abgegeben und sein Ultimatum gestellt hatte?«

      »Ryan befahl uns, in den oberen Stock hinaufzugehen«, antwortete Mrs. Greenwood. »Die Tür zum Treppenhaus lässt sich abschließen, und diese Tür schloss er hinter uns ab.«

      »Man braucht ganz sicher kein Akrobat zu sein, um aus einem Fenster des oberen Stockwerks zu springen«, meinte Finch.

      »Daran dachten wir am Samstag überhaupt nicht«, gestand Lancaster. »Es lässt sich schwer erklären, aber das Ganze war so unwirklich, so unsinnig, dass wir alle uns an den Gedanken klammerten, es könne sich nur um einen dummen Spaß handeln. Wir sprachen ernsthaft darüber, aber wir glaubten es nur halb. Stillschweigend hofften wir aber, Ryan würde uns am nächsten Morgen auslachen, und damit wäre die Sache erledigt.«

      »Aber das war nicht der Fall?«

      Lancaster schüttelte den Kopf.

      »Am Morgen saß er auf dem Landungssteg beim Bootshaus und rauchte seelenruhig eine Zigarette – das Jagdgewehr lag auf seinem Schoß. Ich ging zu ihm hinunter. Drei Yards von sich entfernt ließ er mich stehenbleiben. Ich sagte ihm, der Spaß wäre nun weit genug gegangen, die Frauen würden sonst bald hysterisch. Darauf versicherte er mir, es wäre kein Spaß, und um es mir zu beweisen, gab er einen Schuss auf ein altes Holzfass ab, dass zum Auffangen von Regen genutzt wird.«

      »Wir erschraken hier oben zu Tode, als der Schuss fiel«, warf Brian Chandler ein. »Wir dachten natürlich, er hätte Howard erschossen.«

      »Es war jedenfalls überzeugend«, fügte Lancaster säuerlich lächelnd hinzu. »Er sagte mir, wir hätten sechs Tage Zeit, um ihm den Erpresser zu übergeben.«

      »Die beiden Kutschen, die ich gesehen habe … sind die wirklich gebrauchsunfähig?«

      Brian Chandler nickte.

      »Ich bin ein recht geschickter Handwerker, aber ohne vernünftiges Werkzeug ist da nichts zu machen. Aber selbst wenn ich die Reparaturen ausführen könnte, was sollte uns das nutzen? Er hat ja die Pferde davongejagt.«

      Finch bedankte sich, als Mrs. Greenwood ihm noch einmal Kaffee nachschenkte.

      »Die Erpressungsgeschichte könnte durchaus wahr sein … Immerhin sprechen die Tatsachen dafür, und es lässt sich nicht abstreiten, dass Mr. Greenwood unter einem unerträglichen Druck steht. Nehmen wir also an, es ist so, wie er erklärt hat, dann bleiben uns nur drei Möglichkeiten. Wenn der Erpresser tatsächlich in Ihrer Gruppe zu suchen ist, stehen uns noch vier Tage zu seiner Entlarvung zur Verfügung. Oder aber wir überreden Mr. Greenwood, seinen Entschluss aufzugeben, indem wir ihn überzeugen, dass der Gesuchte nicht hier zu finden ist. Die dritte und letzte Möglichkeit: Wir entwerfen einen Fluchtplan und führen ihn aus.« Er blickte in die Runde. »Eine Flucht haben Sie wohl noch nicht versucht?«

      »Ich bin fest davon überzeugt, dass er seine Drohung wahr machen wird, Dr. Finch«, erwiderte Mrs. Greenwood. »Ich glaube, wenn einer von uns ausbräche, würde er alle übrigen umbringen.«

      »Wir meinten, dass eine Flucht nur der letzte Ausweg sein könne«, ergänzte Lancaster. »Und wenn wir es noch so geschickt anstellen, es bliebe ein unkalkulierbares Restrisiko.«

      »Das Restrisiko ist das Risiko, das einem den Rest gibt«, versuchte es Nicolas Brown mit Humor.

      »Risiko …« Mrs. Drummond schüttelte ob Browns Bemerkung missbilligend den Kopf. »… ein Begriff, über den sich die Tierwelt totlachen würde!«

      »Wo schläft Mr. Greenwood eigentlich?«, erkundigte sich Finch, das Geplänkel unterbrechend.

      »Das mag der Himmel wissen«, antwortete Lancaster. »Wir haben ihn seitdem kaum zu Gesicht bekommen. Er war bereits drei Tage hier, bevor wir eintrafen. Er wird sich vermutlich außerhalb des Hauses irgendeine Schlafgelegenheit geschaffen haben.«

      »Er beobachtete mich heute Nachmittag die ganze Zeit, während ich herumirrte«, betonte Finch.

      »Wie hätten wir das erahnen können?«, versetzte Brian Chandler. »Wir sind davon ausgegangen, dass er sich irgendwo versteckt hält und nur auf einen Ausbruch wartet, um uns niederzuschießen. Außerdem glauben wir, dass er überall Fallen aufgestellt hat.«

      »Fallen?«

      Chandler zuckte die breiten Schultern.

      »Wir wissen selbst nicht, wie die aussehen könnten, und … schließlich ist der Kerl ja verrückt, nicht wahr?«

      »Die dritte Möglichkeit wäre also die letzte verzweifelte Chance«, konstatierte Finch. »Dennoch sollten wir diesbezüglich Pläne schmieden.«

      »Einen Erpresser entlarven, der gar nicht vorhanden ist, erscheint mir auch etwas schwierig«, bemerkte Nicolas Brown spitz. »Und was die Frage betrifft, Ryan gut zuzureden … Haben Sie schon einmal versucht, mit einem Wahnsinnigen vernünftig zu reden?«

      »Jawohl, Mr. Brown«, erwiderte Finch. »Beim Zureden braucht es vor allem eines: gut zuhören. Und davon verstehe ich einiges, denn das ist zufällig mein Beruf.«

      ***

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