Thomas Riedel

Charles Finch: Im Sog des Wahnsinns


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die Wipfel der großen Tannen am Seeufer vom schiefergrauen Himmel über der Schwärze ab.

      Im Haus hatte er acht Menschen zurückgelassen, die sich um den Kamin im Salon scharten. Finch wusste, dass seine Gegenwart ihnen in gewisser Weise neue Hoffnung verliehen hatte – nicht weil sie seine Tüchtigkeit kannten, sondern weil er als Fremder dem Problem eine neue Einstellung entgegenbrachte und noch nicht ganz entmutigt war.

      Hätten sie daran gedacht, in der Bibliothek einen Blick in den Band ›Who is Who‹ der ›Encyclopedia Britannica‹ zu werfen, so hätten sie schnell herausfinden können, dass der verirrte Fischer auf seinem Gebiet eine recht bedeutende Persönlichkeit war:

      FINCH, CHARLES, Dr. med., geb. 1824 in Cardiff (Wales). Mitglied der ›Royal Medical and Chirurgical Society of London‹; Gutachter bei vielen berühmten Mordprozessen. Verfasser von: ›Die Geheimgänge der Seele. Der Mensch im Kampf zwischen Tod und Leben‹, ›Der schlafende Vulkan. Studie über die Angst‹, ›Psychiatrie und Verbrecher‹; zahlreiche Beiträge in medizinischen Fachjournalen.

      Das war der Mann, der in die Nacht hinausging und eine Begegnung mit einem hochintelligenten, gefährlich aufgewühlten Menschen suchte. Sofern er Furcht kannte, wurde sie von seiner unersättlichen Neugier in Bezug auf menschliche Verhaltensweisen übertrumpft. Während er nach Ryan Greenwood Ausschau hielt, erinnerte sein Gemütszustand an den eines Schachspielers, der plötzlich vor einer ganz neuen Serie von Eröffnungszügen steht, gegen die es keine Standardverteidigung gibt.

      Am Ufer des Sees blinkten Glühwürmchen. Während er das Leuchten betrachtete fiel ihm auf, dass eines der Fünkchen nicht im gleichen Rhythmus wie das der fliegenden Insekten blinkte. Als sich seine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, wurde ihm bewusst, dass dieses Glühen von einer Zigarette herrührte. Langsam schritt er auf die Stelle zu. Der Funke kam vom Ende des Anlagesteges. Als Finch die Planken unter den Füßen fühlte, zögerte er.

      »Sind Sie das, Mr. Greenwood?«, rief er fragend.

      Die Zigarette bewegte sich ein wenig.

      »Ja«, antwortete eine heisere, müde Stimme.

      »Hier ist Doktor Finch.«

      »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie zu mir kommen würden«, erwiderte Greenwood. »Im Gegensatz zu den anderen weiß ich nämlich sehr gut, wer Sie sind.«

      »So?«, reagierte Finch gedehnt.

      »Sie kamen mir bereits heute Nachmittag irgendwie bekannt vor, aber ich konnte Sie zunächst nicht unterbringen. Später wurde es mir dann klar. Sie sind der Mann, der im vorigen Jahr in Oxford den Mordfall Francis Murdock gelöst hat. Für einen Juristen war es ein interessanter Fall. Ich fuhr eigens hin, um Ihr Gutachten vor Gericht zu hören.«

      »Dann dürften Sie wissen, dass ich Ihnen vielleicht helfen könnte«, entgegnete Finch ruhig und machte auf dem Steg ein paar weitere Schritte auf ihn zu.

      »Kommen Sie nicht näher, Doktor!« Das Licht einer Sturmlaterne flammte auf. »Ich habe mein Gewehr hier. Links neben Ihnen finden Sie ein umgedrehtes Paddelboot.« Die Laterne bewegte sich leicht und enthüllte es im Lichtkegel. »Dort können Sie sich hinsetzen.«

      »Danke.« Finch ließ sich auf dem Holzrumpf nieder. Dann holte er seine Pfeife und einen abgenutzten Tabaksbeutel hervor.

      »Einen Punkt sollten wir von vornherein klarstellen, Doktor«, begann Ryan Greenwood. »Ein Mensch, der zu so verzweifelten Maßnahmen wie ich getrieben worden ist, hat nicht viel zu verlieren. Ich habe nur eine einzige Möglichkeit, mein natürliches Leben zu Ende zu führen.«

      »Und die wäre?«

      »Das ich meinen Erpresser entlarve, ohne dass er der Welt verraten kann, was er weiß. Wenn er sich zu erkennen gibt und gleichzeitig erzählt, was er weiß, bin ich erledigt. Wenn er sich nicht zu erkennen gibt und ich alle laufen lassen muss, würde ich wegen Entführung und schwerer Bedrohung an Leib und Leben im Zuchthaus oder womöglich in einer Irrenanstalt enden. Mord und Selbstmord wären weit weniger qualvoll.«

      »Das ist nicht von der Hand zu weisen«, antwortete Finch seelenruhig, rieb ein Streichholz an und entzündete den Tabak seiner Pfeife.

      »Sie werden mir sicher einreden wollen, dass ich krank bin«, fuhr Greenwood fort, »und mir zu erklären versuchen, dass ich keinen wirklichen Schaden angerichtet hätte, wenn ich diesen ungeheuerlichen Plan aufgäbe, … dass ich in aller Stille in ein Sanatorium gebracht und mit der Zeit durch angemessene Behandlung geheilt werden könnte. Das wäre vielleicht eine Lösung, … aber ich lehne sie ab.«

      »Ich wollte Ihnen das keineswegs vorschlagen«, erwiderte Finch. »Ich wollte vielmehr zum Ausdruck bringen, dass ich Ihnen bei der Entlarvung des Erpressers helfen könnte.«

      »Sie glauben also, dass es ihn gibt? Die anderen wollen es nämlich nicht wahrhaben, dass heißt alles bis auf einen … den Erpresser!«

      »Ich bin davon überzeugt, dass ihn gibt«, erklärte Finch gelassen. »Darf ich fragen, wodurch er Sie in der Hand hat, Mr. Greenwood?«

      »Wenn ich Ihnen das verriete«, entgegnete Greenwood mit barscher Stimme, »gäbe es für mich überhaupt keine Hoffnung mehr. Ich bin ein durchaus vermögender Mann, Doktor. Schon mein Vater hatte es zu nicht unerheblichen Wohlstand gebracht, und meine Mutter war eine Harrow – Sie kennen diese Firma vielleicht. All das habe ich geerbt. Ein normaler Erpresser hätte Geld gefordert, um seine Habgier zu stillen. Dieser Mensch aber hasst mich … Er scheint einzig vom Wunsch beseelt, mich zu zerstören, und das ist ihm gelungen. Nur will ich ihn mit mir in die Tiefe ziehen.«

      »Und alle anderen ebenfalls?«

      »Wenn es keine andere Möglichkeit gibt.«

      »Sie haben eine entzückende Frau«, begann Finch nach einer geraumen Weile. »Lieben Sie sie nicht, Mr. Greenwood?«

      »Doch natürlich! Aber …«

      »Aber?«

      »Steht sie mir nicht am allernächsten? Gerade Sie weiß doch sehr viel mehr über mich als jeder andere!«

      »Gibt es irgendeine Akte über Ihr Verbrechen, die sie gefunden haben könnte?«, erkundigte sich Finch.

      »Nein!« Greenwoods Stimme hob sich. »Sie kann es mit angesehen haben … Vielleicht habe ich im Schlaf auch gesprochen … Wie soll ich das wissen?«

      »Waren Sie denn nicht glücklich miteinander?«

      »Ich glaubte es«, erwiderte er einschränkend. »Obwohl sie mich nicht liebte, als wir heirateten. Ich war der Meinung, sie hätte mich lieb gewonnen, aber wer weiß … vielleicht ist das ihre Rache. Wie sagte Konfuzius: Das Wasser haftet nicht an den Bergen, die Rache nicht an einem großem Herzen.«

      »Wenn Sie das denken, frage ich mich, warum sie Sie geheiratet hat, wo sie Sie nicht liebte?«

      »Danach müssen Sie sie selbst fragen!« Greenwood holte tief Atem. »Das führt uns doch zu nichts, Doktor.«

      »Wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich Tatsachen als Arbeitsunterlage haben.«

      »Sie können mir nur helfen, wenn Sie den anderen deutlich zu verstehen geben, wie ernst es mir ist. Mit anderen Worten: Wenn sich mir der Erpresser nicht spätestens in vier Tagen zu erkennen gibt, werde ich meine Drohung wahrmachen.«

      »Ich will es Ihnen gern sagen«, antwortete Finch leichthin. Die Pfeife war ihm ausgegangen, und er zündete sie von neuem an, wobei sein ruhiges, unbewegtes Gesicht von der Flamme des Streichholzes enthüllt wurde. »Sie haben sicher schon einiges versucht, Mr. Greenwood … etwa die Herkunft des Briefpapiers überprüft und die Schreibmaschine in Ihrem Büro oder im Haus eines Ihrer Freunde aufzuspüren.«

      »Das alles habe ich natürlich schon versucht«, bestätigte Greenwood. »Es handelt sich um ganz gewöhnliches Schreibmaschinenpapier, das man ebenso wie die Umschläge in jedem einschlägigen Geschäft kaufen kann. Ich habe die Schreibmaschinen in meinem Büro überprüft, … die von Kathlyn, und die Howards bei der Zeitung,