Constant Kpao Sarè

Tschinku im Gastland


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      Tschinku im Gastland: Meine Heimat Deine Heimat

      Constant Kpao Sarè

      Roman

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      Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

      1. Auflage Januar 2019

      © indayi edition, Darmstadt

      Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

      Gesamtleitung Lektorat, Umschlaggestaltung und Satz: Birgit Pretzsch

      Lektorat: Anna Nestmann

      Über den Autor

      Constant Kpao Sarè. Geboren 1974 in Djougou (Bénin), Maître de Conférences am Département d’Etudes Germaniques (DEG) an der Université d’Abomey-Calavi in Benin (UAC). Studium der deutschen Literatur und Sprache an der Université Nationale du Bénin, Universität des Saarlandes (Deutschland) und Université Paul-Verlaine de Metz (Frankreich), sowie der Verwaltungswissenschaften an der deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Promotion in Germanistik (2006). Seine Forschungen widmen sich u.a. der Postkolonialen Erinnerungskultur in der zeitgenössischen deutschsprachigen Afrika-Literatur, wozu er auch zahlreich publiziert.

      Widmung

      Meyaki Karol

      Tissora Benedikt

      Nassara Michelle

      Djetnan Jürgen

      Klehou Wilhelm

      „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, die eine will sich von der anderen trennen.

       Johann Wolfgang von Goethe

      &&& Ein Mann ist verbittert

      Es gibt mindestens zwei Personen, denen das Wort nicht genommen werden kann, zwei Personen, mit denen nicht diskutiert werden darf, zwei Personen, die man nicht zu bekehren versuchen sollte, zwei Personen, denen nicht widersprochen werden darf. Es gibt im Leben mehr als zwei Arten von Menschen, denen man zuerst nur aufmerksam zuhören müsste, bis sie alles gesagt haben, bis sie den Mund zugemacht haben, bis sie einen nach etwas fragen und bis sie schweigen und einen ansehen und demutsvoll beobachten, als ob sie von einem das „nicht schuldig“ des Richters oder ein „mein Sohn, deine Schuld wird dir vergeben“ des Priesters erwarten.

      Es gibt den Verräter, der unter allen Umständen kurzen Prozess macht, den schuldbewussten, reumütigen Brandstifter, der sich endlich entscheidet, hemmungslos zu reden. Der Übeltäter, der über alles sprechen will, über die kaum denkbare, erbarmungslose, barbarische, grausame und brisante Wahrheit, über die härteren Maßnahmen, durch welche er die Weltordnung gemein zerstört hatte, über die Brutalität, mit der er unschuldige Menschen rücksichtslos und hartherzig gefoltert hatte, über getötete Kinder, Frauen und Schwerbehinderte, über ruinierte Leben – von dieser Person wird gewiss nicht die Rede sein in der nachkommenden Erzählung.

      Es gibt den durch soziale Ungerechtigkeit erbitterten Menschen, den Menschen, der eine unsinnige und absurde Realität jahrzehntelang kraftlos, machtlos und wehrlos erlebt hatte. Den Menschen, der sein eigenes Leben allmählich und graduell in eine labyrinthische, verwirrende, dunkle und geheimnisvolle verdammte Höhle herunterstürzen sah, ohne reagieren zu können, ohne es zu wagen, irgendetwas zu unternehmen.

      Ich begegnete ihm kurz vor seinem fünfundvierzigsten Geburtstag während meines einwöchigen Aufenthaltes in Saarbrücken, wo ich weit weg von meinem alltäglichen vorschriftsmäßigen Leben versuchen wollte, mich wieder in die Stimmung und Umgebung der damaligen Studienzeit zu vertiefen. Er sah wie ein sechzigjähriger, mitteloser und familienloser Bauer aus, der seinen letzten Hund aus Mangel an Futter sterben sah: arm, hoffnungslos und jämmerlich gekleidet, mit einer Zigarettenschachtel als Jonglierspielzeug. Der offensichtlich arme Mann stand plötzlich vor mir, nachdem er seine altmodische dunkle Sonnenbrille von den Augen genommen hatte, damit er seinen eigenen Augen trauen konnte.

      Als ich ihn sah, versuchte ich, ihm auszuweichen. Der Mann kam mir aber artig und freundlich entgegen, mit einem familiären Lächeln, welches nur einer bekannten Person angeboten werden kann. Ich bemühte mich darum, sein kodifiziertes und fast provozierendes Grinsen nicht wahrzunehmen, besser gesagt, mich vor dieser ungünstigen und lästigen Erscheinung und deren jämmerlichen Aufführung zu schämen: ich hatte ihn nicht erkannt. Ich glaubte, ich hatte es mit einem Bettler zu tun und sagte mir ganz leise: „On aura tout vu!“. Es wäre in der Tat das erste Mal für mich, mit eigenen Augen einen schwarzen Straßenbettler in Deutschland zu sehen. Abgesehen davon, dass er keinen beängstigenden, hässlichen und schmutzigen Hund dabei hatte, sah er wie einer der Obdachlosen aus, die zu jener Zeit vor dem Saarbrücker Rathaus zu sehen waren.

      Eigentlich fühlte ich mich weder unwohl, weil der Mann wie ein Almosenempfänger aussah, noch weil ich auch schwarz bin, sondern vielmehr, weil ich ein schwarzer Minister war. Ich hatte sozusagen Gewissensbisse und fragte mich, was die Deutschen glauben würden: Noch einer der vielen hungernden Menschen, die in Afrika nichts zu essen bekommen und zu uns zum Betteln kommen. Aber ich verstand nicht, wieso ich dieses Schuldgefühl und dieses schlechte Gewissen hatte. Schließlich wusste ich gar nicht, aus welchem Land der Mann kam.

      Je intensiver ich mich allerdings mit dieser Idee auseinandersetzte, desto unwohler fühlte ich mich. Blitzartig bekam ich ein Stück Klarheit in den entwürdigenden Gedanken, in den Schattenvorhang vor Augen. Eine mir nicht unbekannte Stimme, die ich dennoch nicht identifizieren konnte, flüsterte mir leise immer wieder in die Ohren: „Sie, Verbrecher! Sie, unverschämter Ausbeuter! Dies ist das Ergebnis Ihrer geschmacklosen Inkompetenz, Ihres Mangels an Patriotismus und Ihrer dreisten und frechen Machtgier! Das ist noch eines der Opfer Ihrer schlechten Politik!“.

      Diese Worte landeten direkt in meinem Gedächtnis wie ein Elektroschock. Nach einer kurzen Weile konnte ich wieder klarsehen. Der Nebel war nicht mehr da. Die Gedächtnisverwirrung und die fremde Stimme waren auch verschwunden. Nun konnte ich sie erkennen. Es war die Stimme von Dossou, einem unserer strengsten und unsympathischsten Gewerkschafter. Seine Worte waren nicht mehr zu hören, aber das Gefühl meiner eigenen Nutzlosigkeit war geblieben.

      Bevor ich mir meine Enttäuschung anmerken ließ, stand nun der mitleiderregende Mann vor mir und versuchte vergeblich, mich zu umarmen, ohne daran zu denken, dass er meinen lilienweißen Anzug durch seine Lumpen, eine nicht gebügelte Bluejeans und ein teilweise entfärbtes T-Shirt, beflecken würde. Die ersten Worte, die er aussprach, brachten mich sofort in die unerbittliche Realität zurück: der Mann kannte mich. Er war zweifelsohne einer meiner zahlreichen Freunde aus der Schule.

      - „Barka! Mein gutes Kind!“ schrie er mir gegenüber auf, ohne dabei der Versuchung zu widerstehen, während des Händedrucks mit den Fingern zu klappern, auf die Art und Weise, wie wir uns früher begrüßt hatten.

      Er wagte, mich mit dem Scherznamen anzureden, mit dem mich seit mehr als einem Vierteljahrhundert niemand mehr getraut hatte anzusprechen. Die Bezeichnung „Gutes Kind“ war mit meiner Persönlichkeit schon damals im Gymnasium verbunden. Unser erster Deutschlehrer - der eigentlich Englischlehrer war und kaum Deutsch sprechen konnte – pflegte, mir mit diesem Ausdruck jedes Mal zu gratulieren, wenn ich auf Anhieb das Datum richtig gelesen hatte, was für die meisten von uns damals eine Sisyphusarbeit war.

      Um ihn zu erkennen, musste ich meinen ewig aus den Augen verlorenen Freund und augenblicklich unerwünschten Sozius lange und umfassend anstarren.

      - „Jakob! Jakob!“ freute ich mich endlich, allerdings nicht wegen unserer Begegnung, sondern wegen der Meisterleistung meines Gedächtnisses.

      Jakob war sein Spitzname, eine, wie ich