als fast sakral und durften deshalb nur mit Rücksicht und Respekt ausgesprochen werden. Jeder Missbrauch von Familiennamen wurde von den Lehrern streng bestraft.
Ich sah Jakubu minutenlang an und fand trotz voller Anstrengungen keine Worte. Es war für mich eine große und schlechte Überraschung. Trotz großer Bemühungen konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass Jakubu, der allervernünftigste und fleißigste von uns allen, da vor mir stand, quasi in eine Mumie verwandelt.
Es war endlich Jakubu, der mich wieder aus meinen Erinnerungen in die Gegenwart zurückrief, als er sagte:
- Barka, hör auf nachzudenken! C’est la vie! So ist das Leben. Entweder hast du dein Leben im Griff oder du bist von deinem eigenen Schicksal hin- und hergetrieben wie ein Blatt vom Wind. Ich bin von meinem Leben in eine Sackgasse geführt worden.
Mir kam die Idee, ihn zu einem Kaffee in das - auch für den Minister, der ich war - teure Bahnhofscafé einzuladen. Ich verzichtete jedoch auf die Überlegung nicht aus finanziellen Gründen, sondern weil es mir komisch und seltsam schien, mit so einem sozialen Habenichts- und sei es ein ehemaliger Klassenkamerad - in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Ich fand es vernünftiger, ihn in mein Hotel zum Abendessen einzuladen. Wir vereinbarten also einen Termin gegen zwanzig Uhr. Ich erinnerte Jakubu daran, dass er mich vielleicht nicht genau Punkt zwanzig Uhr im Hotel finden würde und dann kurz auf mich warten sollte.
- Ja, ich weiß. „Gegen zwanzig Uhr“ haben wir gesagt. Es ist bekannt, dass wir Afrikaner das Wort „um“ nicht gebrauchen, wenn es um Termine geht, anstelle benutzen wir „gegen“, weil die Zeit für uns immer dehnbar und elastisch ist. Das weiß ich noch.
Das war seine, wie ich fand, raffinierte Antwort, die er allerdings ohne jegliche diplomatische Rücksicht, sondern mit fast pfiffigem Selbstbewusstsein formulierte.
Ich musste mich von Jakubu verabschieden, nachdem ich noch viele Grüße an seine Frau gerichtet hatte, obwohl ich mir gewissermaßen sicher war, dass er keine mehr hatte, weil er so unglücklich und unbekümmert aussah.
&&& Das Treffen
Am Abend dachte ich extra daran, das Zimmermädchen darum zu bitten, einen zweiten Stuhl in mein Hotelzimmer zu bringen und zwei Teller Dibbelabbes, eine saarländische Kartoffelspezialität, zu bestellen. Ich wollte Jakubu nicht im Gemeinschaftsraum empfangen, weil ich einerseits wusste, dass wir uns viel zu erzählen hatten, und weil mir andererseits bewusst war, dass eine ruhige Umgebung der geeignetere Ort dafür war. Jakubu aber meinte, etwas Anderes hinter meinen Gedanken entdeckt zu haben. Als ich ihm mitteilte, dass wir es uns in meinem überwiegend in Türkis gehaltenen Zimmer gemütlich machen würden, sagte er laut und ganz hörbar, ohne auf die Hotelgäste in der Halle zu achten, wo ich ihm entgegenkam:
- Du hast Recht, Herr Minister! Es dient unserem Bild nicht, wenn du dich mit mir in der Öffentlichkeit zeigst.
Ohne mir die Gelegenheit zu geben, etwas zu meiner Verteidigung zu sagen, fragte er übereilt:
- Bist du eigentlich hier von Amts wegen oder hast du an uns gedacht?
- „Beides“ antwortete ich, ohne zu vergessen, seinen schmächtigen Körper zu umarmen und ihn gegen meinen Bierbauch zu drücken.
Mit diesem Verführungsmanöver wollte ich es ihm bequemer und vertraulicher machen, damit sein erster Eindruck von mir verschwand. Dann nahm ich seine Hand und führte ihn in mein Zimmer. Dort demonstrierte ich ihm meine ganzen Kenntnisse in Farbensymbolik. Ich erklärte, dass der grünlich-blaue Farbton der Tapeten, Vorhänge und Möbel für fruchtbare gedankliche Kreativität stehen würden. Obwohl ich nichts mit dieser Zimmergestaltung zu tun hatte, dachte ich dadurch, meine Präferenz für unsere Unterhaltung in meinem Schlafraum verständlich zu machen.
Als wir am Tisch waren, vergaß ich nicht, auf die Frage von Jakubu noch einmal explizit zu antworten:
- Mein Lieber, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bin nach Hannover gekommen, um an der offiziellen Eröffnung der Weltausstellung teilzunehmen, und ich habe an euch gedacht. Weißt du? Aus dem Land der Eichhörnchen haben wir bei dieser Messe unsere geschätzten Grasnager (Agoutis) ausgestellt. Ich weiß, Ihr Europäer glaubt immer, wir könnten nur tanzen und singen. Aber wir sind auch gut in Viehzucht, nämlich der Grasnagerzucht. Ich bleibe hier eine Woche und dann kehre ich verrichteter Dinge in mein Ministerium zurück. Dort wartet schon jetzt viel zu viel Arbeit auf mich.“
Da Jakubu auf meine Provokation nicht einging, formulierte ich bewusst eine neue Herausforderung, bevor wir mit dem Essen fertig waren. Ich konnte nämlich feststellen, dass mein Freund die Kunst unseres Hotelkochs zu schätzen wusste, da er offensichtlich mit viel Appetit dieses Gericht schlemmte, das ich geschmacklos, zu mild, nicht genug gewürzt und nicht scharf fand.
- „Jakob, schieß los!“ brüskierte ich.
Da kein Wort aus seinem Mund kam, weil er mit Kauen beschäftigt war, nutzte ich die Gelegenheit, um ihn ein bisschen aufzuziehen:
- Jakubu, du bist ja Saarländer geworden. Schau mal, mit wie viel Appetit du dein Gericht genießt!
- „Nein, nein! Um Gotteswillen beleidige mich nicht, mein Bruder. Ich bin kein Deutscher, geschweige denn Saarländer. Ich bin nur Deutscher auf dem Papier. Ich kann nie Deutscher werden. Ich habe eine deutsche Frau und zwei deutsche Kinder. Aber ich! Ich werde nie Deutscher. Ich bin und bleibe Afrikaner von Kultur“, erwiderte er mit vollem Mund und übertriebener Unerbittlichkeit, als hätte ich ihn „Sklave“ oder „Neger“ genannt.
- „Deutscher auf dem Papier, das weiß ich genau“, sprach er weiter. Und deswegen gehe ich niemals ohne meinen Ausweis aus dem Haus. Ich weiß, dass ich ohne Ausweis verloren bin. Keiner, mich eingeschlossen, würde daran glauben, dass ich Deutscher bin, wenn ich mich nicht ausweisen könnte. Ja, beweisen können, das muss ich immer und überall. Vom ersten Tag als ich hier ankam wusste ich schon, dass ich hier nicht zu Hause sein würde. Das brauchte mir auch übrigens niemand zu erzählen. Das habe ich selber täglich, geduldig und Schritt für Schritt herausfinden müssen.
Ich musste verstehen, dass das hiesige Zusammenleben nicht mit der Absicht aufgebaut wurde, damit irgendwann ein gewisser Tschinku hier leben kann. Hierzulande als richtiger Tschinku fortzuleben, das war nicht vorgesehen. Ich musste vieles neu lernen. Sogar das Essen musste ich nochmal einstudieren. Während die Kinder schon mit vier die Kunst des Gabelns, des Löffelns und des Messerschneidens beherrschten, musste ich mich, als Erwachsener, immer wieder lächerlich am Tisch machen. Wie du sicher weißt, wird in unserer Tradition Ungeschicklichkeit beim Essen nicht toleriert. Ich persönlich erinnere mich immer noch sehr genau an die Ohrfeigen, die ich mir von meinen älteren Geschwistern einfing, wenn ich mir beim Essen beispielsweise die Rotznase putzte, wenn ich versuchte das Tagesgericht zu beschnuppern und dabei den appetitanregenden Geruch von brühheißem Palmöl abschätzte, oder wenn ich als erster satt war und versuchte, mich vom Tisch zu entfernen, ohne nach der Zustimmung des Ältesten am Tisch zu fragen.
Hier scheinen die Leute doch Verständnis für unbeachtete Tischmanieren zu haben. Es wird keine Tracht Prügel verabreicht, wenn der Tischherr rechts von seiner Tischdame sitzt oder wenn der Gast seinen Teller Suppe auslöffelt, ohne auf seinen Gastgeber zu warten. Das alles wird meistens toleriert. Aber man versteht beim besten Willen nicht, dass ein Erwachsener eine so einfache Technik wie Messer in der rechten und Gabel in der linken Hand halten nicht beherrscht. Und ich musste trotzdem immer mit voller Aufmerksamkeit am Tisch sitzen, um dieses banale Verfahren nicht zu vergessen, um die Finger der rechten Hand nicht aus Versehen im Teller landen zu lassen oder um das Besteck nicht fallen zu lassen.
Ich musste verstehen, dass es für den richtigen Tschinku keinen Platz hier gibt. Dass es für mich keinen Friseur gibt, weil kein Haarschneider gelernt hat, wie man meine gekräuselten Haare schneidet. Dass das Leitungswasser für meine Haut nicht geeignet ist. Dass es nicht normal ist, einfach auf der Straße Tanzschritte ohne Grund aufzuführen. Dass es unhöflich ist, wegen einer Kleinigkeit zu lachen oder zu grinsen, und dass man stattdessen unauffällig lächeln sollte. Dass das Lächeln als Ausdruck der Sympathie und der Berührung eines anderen gilt, während das Lachen in der Öffentlichkeit meistens