Constant Kpao Sarè

Tschinku im Gastland


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meine Vergangenheit zu vergessen. Hoffentlich ... hoffentlich haben die Meinen, meine Familie, meine Freunde, meine Verwandten ... mich nicht für tot erklärt und meine Bestattung organisiert. Aber auch das spielt keine Rolle mehr. Denn ich bin nicht mehr Jakubu Tschinku! Ich war. Ja, ja ... nein! Ein Teil von mir ist tot. Den gibt es nicht mehr. Der zweite Teil jedoch verlangt ständig den verstorbenen Teil von mir. Deswegen bin ich immer unentschlossen. Ich existiere nicht mehr. Nicht mehr ganz. Ich kann keine Entscheidung treffen, weil ich nicht mehr alle beisammenhabe. Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank. Viele sind dortgeblieben, zu Hause, in Afrika. Ich kann atmen, aber ich fühle, dass eine Herzkammer zu Hause geblieben ist. Da, die linke. Mein Blut! Das läuft nur teilweise in meinem Körper. Nur im rechten Teil. Hier, fass mal an! Alle Organe auf der linken Seite, sie funktionieren nicht. Ich kann gut und richtig hören, aber ich habe den Eindruck, als fehle mir ein Gehörorgan. Auch meine Augen sehen gut. Ich sehe aber kaum. Das eine Auge, das linke da, weigert sich zu sehen. Das ist einfach in der Vergangenheit geblieben. Das sieht nur das, was damals war. Meine Kindheit, meine Schulzeit, die schöne Gymnasialzeit. Ja, es will einfach nicht die Gegenwart sehen. Auch das linke Bein und der linke Arm sind wie gelähmt, obwohl ich gut gehe und mich ohne Schwierigkeiten bewegen kann. Ich fühle es einfach. Ich bin gesund, doch sie lehnen es einfach ab, meinem Willen zu gehorchen. Ich gelte deshalb als arbeitsunfähig.

      Es ist mir niemals gelungen meine Arbeitsgeber von meiner Leistung zu überzeugen. Die haben mir immer gesagt: „Herr Tschinku, ich denke, Sie wollen gar nicht arbeiten“. Das stimmt aber nicht. Ich will arbeiten, aber es geht einfach nicht. Ich bin wie ein Kind. Nein, habe ich Kind gesagt? Ich beschönige noch. Ich bin nur ein Ding. Ich erwarte jeden Tag, dass die gute Uta mir sagt: „Jakubu, tue dies! Jakubu, tue das! Steh auf! Wasche die Kinder! Geh einkaufen! Ja, ich bin ein Ding. Ich kann kaum noch denken. Ich mache nichts aus eigenem Antrieb. Auch essen tue ich nicht, wenn ich allein bin. Nur rauchen. Hast du gesehen, wie ich hier gegessen habe? Es ist so, als ob alle meine Kräfte wieder da wären, weil ich hier bin. Hier, bei dir.

      Es gibt etwas in dir, was mich lebendig macht. Es gibt in dir etwas, das ich brauche, etwas, was mir fehlt. Den zweiten Teil von mir finde ich hier bei dir. Ich habe Angst davor, dass ich in meinen leblosen Zustand zurückfalle, wenn ich von hier weggehe. Aber gleichzeitig habe ich es eilig, nach Hause zu fahren. Ja, sie fehlen mir schon, meine Kinder. Ich will meine Kleinen sehen, ich will sie umarmen, ihnen dienen. Ich vermisse sie schon. Ja, ich vermisse ihre Wünsche, sie sind für mich wie Befehle. Doch ich bemitleide sie auch. Ich bin alles, was sie besitzen. Aber sie wissen es nicht. Sie haben kein Zuhause, aber sie ahnen es nicht. Guck mal! Ich, ich bin Afrikaner und Uta ist Europäerin. Aber die beiden, sie haben kein Zuhause, die Unschuldigen. Ich bin ihr Kontinent, aber sie ahnen es noch nicht. Sie sind wie Fledermäuse. Erinnerst du dich an das Märchen, das unser Biologielehrer immer wieder erzählt hat?

      Es handelte von einem Krieg zwischen Vögeln und Säugetieren. Doch die armen Fledermäuse wussten nicht, zu wem sie gehörten. So standen sie in der Mitte vom Schlachtfeld und bekamen Pfeile von beiden Kontrahenten ab. Kennst du noch diesen Spruch aus dem Volksmund? Er lautet ungefähr so: „Ein Kind mit mehreren Familien ist sicherlich zum Tode verurteilt. Entweder es stirbt vom Hunger oder es stirbt von zu viel Essen.“ Meine Süßen werden vor Hunger sterben. Denn niemand will sie haben, niemand außer mir. Ich bin ihr Kontinent, die Unschuldigen.

      Ich weiß aber selber nicht, ob ich etwas für sie tun kann. Ich weiß nicht, was ich kann, was ich bin, was ich will, wo ich bleiben und wohin ich gehen soll. Eines weiß ich aber: Ich weiß sehr wohl noch, woher ich komme. Aus Afrika, aus Pabegou. Ich bin ein Tschinku, Sohn des Regens. Einer von denen, die jeden Morgen weder vom Kikeriki des Hahns noch vom Rappeln des Weckers aufgeweckt werden, sondern vom Gehörkitzel durch den Lobsänger, den Griot. Das weiß ich noch. Aber ich will dorthin nicht mehr zurückkehren. Ich bleibe hier. Hier bin ich zu Hause. Ich bin ein Deutscher. Nein, ein Teil von mir ist deutsch. Ich mag diesen Teil nicht, ich hasse mich. Aber ich bleibe hier, ich bin hier zu Hause.

      Weißt du? Ich heiße jetzt Jakubu Benedikt Tschinku Wagner. Den Nachnamen Wagner habe ich mit meiner Hochzeit erworben. Ich hätte meine Namen behalten können, wie der Bürgermeister von Ommersheim mir erklärte. Uta meinte aber, es sei schon schlimm genug für unsere Kinder, dass sie einen schwarzen Vater haben. Wir sollten ihnen mindestens die Möglichkeit der Wahl geben, ob sie später meinen oder ihren Nachnamen tragen wollen. So kamen wir zu diesem Kompromiss.

      Uta hatte Recht gehabt. Denn heutzutage werden Leute schon dann nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn allein ihr Name auf eine ausländische Herkunft hindeutet. Ein Mitbürger türkischer Herkunft sagte mir, er fände die Entscheidung gut, dass meine Kinder Wagner hießen. Auf jeden Fall freue ich mich auch darüber.

      Meine afrikanischen Wurzeln habe ich aber begraben müssen. Mein Afrika war damals auf die einzigen schwarzen Freunde beschränkt, die hier wohnten und denen ich gelegentlich auf dem Campus begegnete. Auch von ihnen hatte ich mich allmählich distanzieren müssen, weil ich meine Traumwelt und meine Träumereien mit ihnen nicht teilen wollte.

      &&& Familie Tschinku Wagner

      Am Ende des Semesters fiel die Entscheidung, die mich ganz und gar von allen Freunden trennen sollte. Uta hatte versprochen, mich zu unterstützen, bis ich mit meinem Studium fertig war. Je weiter die Schwangerschaft sich entwickelte, desto weniger konnte die Arme aber zur Arbeit gehen. Was mich anging, hatte ich nichts anderes zu tun, als meine Frau, meine liebe Uta aufzumuntern, als wäre ich auch schon einmal schwanger gewesen. Wenn sie gestresst oder schlecht gelaunt war, verwandelte ich mich wie auf Knopfdruck in einen richtigen Lobsänger. Ich versuchte ganz brav, Märchen, erfundene und wahre Geschichten, Gesänge, Volkslieder, Gedichte, Chansons, Witze und so weiter zu erzählen, um uns das gemeinsame Leben lebendiger zu machen.

      Jedes Wochenende war für uns dieselbe Routine. Ich musste früh aufstehen und für uns Kaffee vorbereiten, den ich ihr ans Bett brachte. Wir tranken zusammen. Ich mochte es eigentlich gar nicht, etwas zu trinken oder zu essen, bevor ich überhaupt gebadet und die Zähne geputzt hatte. Aber ich musste mich daran gewöhnen. Ich hatte keine Wahl. Denn Uta mochte es so und war den ganzen Tag glücklich, wenn ich mit ihr am Bett gefrühstückt hatte. Nach dem Frühstück blieben wir noch im Bett. Für Uta war es leichter als für mich. Sie war daran gewohnt, sich zu langweilen und hatte ohnehin eine Faulenzernatur. Obendrein kam dazu, dass sie schwanger war. Du kennst noch den Spruch: „Der Wind ist immer willkommen für einen Vogel, der sowieso fliegen wollte“.

      Uta lag also den ganzen Vormittag im Bett und ich musste meistens dabei liegen. Natürlich war das Kochen auch Männersache. Ich war die männliche Küchenfee im Haus. Du weißt selbst, dass ich damals schon gern gekocht habe. Aber diesmal blieb mir definitiv nichts andere übrig. Anstatt meine schwangere Frau vor Hunger sterben zu lassen, musste ich meinen Machoreflexen ein für alle Mal Einhalt gebieten. Außerdem war das Kochen für mich eine gute Abwechslung, wenn ich es satthatte, den guten Ehemann zu spielen. Indem ich meine Frau mit kalkulierten Küssen verwöhnte, verdrängte ich das alltägliche „mir tut dies oder das weh“, „mir ist schlecht“, „mir ist übel“ und so weiter.

      Leider war meine Flucht in die Küchenangelegenheiten auch nicht die richtige Lösung, da Uta extra einen Hocker in der Küche installieren ließ, um mich beim Kochen zu beobachten und mich ständig mit „Schatz, bitte nicht zu scharf“, oder „Liebling, bitte nicht so viel Fett“ anzupöbeln. Am Anfang ging mir das ganze Theater auf die Nerven und ich reagierte mit „Wenn du schon weißt, wie es geht, dann koch doch selbst!“. Aber ich verstand ganz schnell, dass ich unser Zusammenleben mit meinen gereizten Nerven nicht angenehmer machte. Und so gewöhnte ich es mir an, Uta einfach immer zu zeigen welche Gewürze ich in welcher Menge benutzte, bevor ich sie in den Topf einwarf.

      Die ganze Situation war mir nur peinlich, weil es nach der Geburt von Conny genauso weiter ging. Auch wenn ich von der Arbeit kam und Uta zu Hause war, hatte sie bereits auf mich gewartet, damit ich uns bekochte. Meistens hieß es: „Schatz, willst du ein belegtes Brötchen essen, bevor du kochst?“. Diese Frage nervte mich auch, aber ich hatte mich nicht beschwert. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich die guten Brötchen bei der Arbeit aß und die von zu Hause nicht runter bekam. Ich hatte das nicht gesagt, seit sie mich zu Beginn ihrer