Constant Kpao Sarè

Tschinku im Gastland


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verstand ganz schnell, dass ich den Lehrsatz meiner Mutter „dem Alter den Vortritt!“ per Luftpost zurückschicken konnte. Dass ich hier keine Anstalten zu machen brauche, um den Älteren meinen Sitz in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu überlassen, weil sie bestimmt ablehnen würden. Dass man Leute nicht begrüßt, die man gar nicht kennt; ansonsten müsse man sich nicht wundern, wenn man gefragt wird: „Kennen wir uns?“. Und zu guter Letzt, dass man ausschließlich auf sich selbst zählen sollte.

      Weil ich gewiss kein wahres Tischleindeckdich erwartet hatte, habe ich das alles ohne große Mühe gelernt. Dann wurde ich Deutscher. Trotzdem muss ich immer meinen Ausweis dabeihaben, um zu beweisen, dass ich auch wirklich Deutscher bin. Also, mein Freund, ich bitte dich, komm nicht wieder mit Anspielungen in der Art, ich sei ein Saarländer.“

      Ich verstand, dass ich es mit einem verbitterten und einem mit allzu vielen Komplexen lebenden Menschen zu tun hatte, und riskierte kein Wort mehr. Ich fürchtete, ich könnte nochmal etwas Deplatziertes und Unangenehmes äußern. Jakubu aber sprach weiter:

      - „Mein Freund, ich bleibe nur wegen meiner Tochter Conni und wegen meines Sohnes Uwe in Deutschland. Und nicht etwa wegen des Studiums oder wegen meiner neuen Staatsangehörigkeit. Hätte ich keine Verantwortung hier, wäre ich ebenfalls schon längst unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt.

      Stell dir vor, seit zwanzig Jahren bin ich in Deutschland und seitdem bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Meine Eltern! ... Die sind beide gestorben. Gott hab’ sie selig! Ich hatte von ihrem Tod erfahren, aber das Einzige, was ich wirklich tun konnte, war ihn zu beklagen. Ich habe mir tagelang die Seele aus dem Leib geweint. Es ist mir allerdings nicht gelungen, nach Hause zu fliegen, um sie zu begraben, um die Zeremonien zu organisieren und die Toten ruhen zu lassen ... Ich weiß! Du denkst jetzt, ich kenne sicherlich unsere Bräuche, Rituale und Riten nicht mehr. Aber das stimmt nicht. Ich weiß alles. Jede Nacht träume ich davon, endlich mal meine Heimat, mein Dorf, meine Familie - besser gesagt, das was davon übrig blieb - wiederzusehen: meine fünfzehn Geschwister, die noch jung waren, als ich nach Deutschland kam. Die haben seit Jahren keine Nachricht mehr von mir bekommen. Dennoch weiß ich alles über sie. Ich weiß, was sie alle jetzt tun, wie es ihnen geht. Ich habe mich immer danach erkundigt. Aber von mir wissen sie nichts. Ich kann ihnen nichts von mir erzählen. Es gibt nichts zu erzählen. Es ist ein Loch. Ja, ein Loch in der Zeit. Zwanzig Jahre, leer ...“

      Jakubu schwieg eine Weile, als wäre er in seinen einsamen Gedanken verloren, als würde er anfangen zu weinen, als würde er aufstehen und von mir weglaufen. Was sollte ich machen? Ihn Umarmen? Mit ihm sprechen? Und was genau sollte ich sagen? Sollte ich von der Zukunft, von der Gegenwart oder eher von der Vergangenheit sprechen? Vielleicht brauchte er auch nichts anderes als nur Ruhe. Vielleicht versuchte er eben, eine Gedenkminute für seine verstorbenen Eltern einzulegen. Ich beschloss, nicht zu sprechen, nicht zu reagieren. Ich wollte ihn nicht noch mehr dazu bringen wieder in die tiefe Vergangenheit zu sinken. Es war auch für mich unerträglich, ihn das sagen zu hören: ein Loch, ein Zeitloch. Doch Jakubu sprach weiter:

      - „Dabei hatte alles gut angefangen. Dabei sollte ich geboren werden, um verwöhnt zu werden. Ich glaube nicht mehr an die ganzen Anekdoten, die die Älteren uns immer so erzählt haben, um entweder ein reines Gewissen zu bekommen oder Leute zu verdummen. Ich glaube nicht mehr an die alten Erzählungen, von denen unsere Kindertage so voll waren, Ammenmärchen von der Art: „Die Natur hat so entschieden, der Wahrsager hat so vorhergesehen, die Ahnen hätten es so gewollt.“, oder Ähnliches. Trotzdem erzähle ich Dir, was die Alten über mein Schicksal berichtet haben:

      Glaubt man der allgemein herrschenden Seelenlehre, die in meiner Großfamilie für meine Persönlichkeit galt, so soll ich eine Wiederverkörperung meines damals noch lebenden Großvaters gewesen sein. Der Überlieferung nach soll mein Großvater von Natur aus eine sehr verwöhnte Person gewesen sein, somit soll ich diese Natur ererbt gehabt haben. So soll ich als Baby schon alles darangesetzt haben, um meiner Mutter die Hölle auf Erden zu bereiten, damit sie mich widerwillig an meine Großeltern abgab.

      Ich soll von Geburt an der bestauserwählte Säugling und Lieblingsgefährte aller Kinderkrankheiten gewesen sein: von der einfachsten Erkältung bis zur Grippe über Schnupfen, Angina, Kolik, Husten, Röteln, Fieber, Scharlachfieber, Malaria, Cholera, Rheuma, Kinderlähmung usw. hinaus. Mit zwei Jahren soll ich weder sitzen noch kriechen gekonnt haben, geschweige denn aufstehen, hüpfen und laufen. Meine so brave, tapfere, heldenhafte, anständige, zuverlässige und damals schwangere Mutter habe mich auf dem Rücken tragen müssen, um ihren Haushalt, besser gesagt, ihre Danaidenarbeit erledigen zu können: Wasser fürs Duschen vom Fluss holen, Frühstück vorbereiten, Geschirr spülen, mit bloßen Händen die Wäsche waschen, auf den Markt einkaufen gehen, Wasser fürs Kochen vom Brunnen holen gehen, Mittagessen vorbereiten, wieder Geschirr spülen, aus Achtung vor der knochenbrennenden Sonne und nicht etwa aus Rücksicht auf die Schwangerschaft sich eine kleine Pause gönnen, Kleider bügeln, Trinkwasser von der offenen Quelle holen gehen, Abendessen vorbereiten, noch einmal Geschirr spülen usw.

      Während dieser zähen Alltagsroutine soll meine Mutter die Krankheit - die ihr Lieblingsstillkind derzeit besucht hatte – nie aus den Augen verloren haben, um sich, je nach der Art der Seuche, ein ärztliches Rezept verschreiben zu lassen, das sie aus eigener leerer Tasche bezahlen musste, oder sich damit begnügen, mich zum Trinken einer von meiner Oma vorbereiteten sehr sauren oder bitteren Pflanzenmischung zu zwingen.

      Das Leiden meiner Mutter soll sich eines glücklichen Tages gemindert haben, so die Überlieferung, die ich später weder von meiner Mutter noch von meiner Naana, meiner Oma, noch von den zahllosen Tantis, den Tanten, bekam, sondern eher von den Hähnen im Stall, von meinem Baaba, dem Opa, von meinen Tontons, den Onkeln, und von meinem Vater. Du hast verstanden: Die ganze Erziehung eines Jungen fällt in die Zuständigkeit der Männer.

      Manchmal frage ich mich allerdings, ob diese Männer nicht einen geheimen Auftrag erhalten hatten, mich darüber zu belehren, wie sehr meine Mutter unter meinem vorprogrammierten Schicksal zu leiden hatte. Denn so deckungsgleich konnte sonst die Wiedergabe derselben Geschichte durch unterschiedene Personen nicht sein. Alle meine selbstbeauftragten Informanten formulierten nämlich denselben Übergang vom Leiden und von den Ärgernissen zur permanenten Lebensfreude, den meine Mutter erlebt hatte, mit folgenden Worten: „Ein von Gott ausgemachter Tag kann nicht ausfallen“.

      Und der Tag, den Gott in seiner ewigen Gnade so gütig, barmherzig und sanftmütig festgelegt hatte, war der Tag, an dem ich von meiner Mutter an meine Großmutter weitergegeben wurde, genauso wie ein allgemeiner Arzt seinen Patienten an einen bekannten Spezialisten überweist. Die Übergabe fand, so fuhren meine Informanten fort, eines hellen, sonnigen, wolkenlosen und gottgesegneten Tages statt, als ein Wahrsager, der aus einem fremden, unbekannten Horizont kam, durch unsere Gegend wanderte. So soll das Schicksal alles genau so geplant haben, dass der Weg zum Markt, den meine Mutter und meine Oma gingen, den des anonymen Hellsehers traf. Dieser soll Mitleid mit meiner hochschwangeren Mutter gehabt und sich entschlossen haben, seine Kauris über die Position meines Schutzsternsystems zu befragen. Der geheimnisvolle Prophet soll unverzüglich über meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft erfahren haben. Er soll den beiden Frauen die Patentlösung aufgezeigt haben, indem er erklärte, dass ich absichtlich und ganz gemein meine Mutter zum Leiden brachte, weil ich unbedingt bei meinem „Wiederverkörperungsidol“, meinem Opa, aufwachsen wolle. Deswegen soll der gottgesendete Retter vorgeschlagen haben, dass meine Oma mich eilends aufnehmen und sich fortan um mich kümmern solle.

      Das sei der Tag gewesen, an dem sich mein Lebensweg und der meiner Mutter unvermittelt getrennt haben. Das sei der Tag gewesen, an dem meine Mutter ihren bestens erfüllten Auftrag loswerden und meine Wunschamme, meine Oma, mich stillen und schaukeln durfte. Das sei der Tag gewesen, an dem ich mich mit meinen wirklichen Eltern, meinen Großeltern, endlich vereinigen durfte. Seit diesem Tag sei ich wie durch ein Wunder von allen Kinderkrankheiten befreit gewesen: keine chronische Erkältung, keine Kolik, keine Kinderlähmung mehr. Innerhalb von einer Woche soll ich angefangen haben zu laufen, ohne vorher weder das Sitzen noch das Aufstehen gelernt zu haben. Der Grund, warum ich meine eigene Entwicklung so mutwillig und vorsätzlich hinausgezögert haben soll, soll der gewesen sein, dass ich ein verwöhntes Opa- und Omasöhnchen