Thomas Riedel

Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee


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Kenneth!«, rief sie ihm zu. Er meinte Vorwurf, Ärger und Widerwillen aus ihrer Stimme herauszuhören, obgleich nichts davon vorhanden war.

      »Hallo, Elizabeth!«, grüßte er zurück.

      Vielleicht war es die Kälte, die sie erröten ließ. Sie trug ein dickes Kleid und eine hellgelbe Weste unter ihrem Wintermantel. Ihre Hände steckten in gelben Wollhandschuhen. Ein Windstoß hatte ihr hellbraunes Haar mit Schnee gepudert. »Ein typisches Landmädchen«, so hatte Raymond Kennedy sie einmal beschrieben und aus seinem Mund war das nicht gerade als Kompliment gemeint. Aber Kenneth Jackson kam es damals treffend und irgendwie sogar liebenswürdig vor. Ihre großen, ehrlichen Augen gefielen ihm, und die stolze Art, in der sie ihren Kopf hochzuhalten pflegte. Sie war bescheiden, offen und ohne Verwicklungen, und sie liebte schlichte Dinge und träumte einfache Träume. Er hatte sie geliebt und von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr geträumt, in der sie sein Haus führen, seine Kinder betreuen und sich für seine Arbeit interessieren würde, ohne sich zu geistreicher Kritik berufen zu fühlen. Für ihn war sie die vollkommene Frau gewesen – bis zum Augenblick seines ersten Besuchs bei Violett Stamford, um die er sich ›kümmern sollte‹.

      »Es wird wohl noch weiterschneien«, meinte sie nach einem kurzen Blick zum Himmel. »Der Wind kommt aus Südwest.«

      Von diesen Dingen sprach man auf dem Land außerhalb Londons; sie waren wichtig und gingen alle an, denn man musste gemeinsam kämpfen, um die Straßen und Wege offen zu halten und Kontakt mit den unmittelbaren Nachbarn zu wahren. Jeder führte auf seinem Gespann eine Schaufel und ein Schleppseil mit sich, um einem Freund oder einem Fremden zu helfen, oder selbst Beistand zu finden, sollte man das Pech haben, in einem Schneesturm stecken zu bleiben.

      »Hast du schon die Neuigkeit gehört?«, wollte er wissen, ohne genauer zu erklären, worum es ging, denn es gab nur eine Neuigkeit.

      »Du meinst Harold?«

      »Ja.«

      Darauf konnte sie nichts erwidern. Alles Weitere hätte für ihn eine Spitze bedeutet. »Sei mir nicht böse, Kenneth, ich muss loslaufen. Vater wartet auf das Dinner.«

      »Nur auf eine Minute, Elizabeth!«, hielt er sie zurück. Sie wartete, und er sah, wie sie sich bemühte, die Dinge leicht und einfach zu nehmen. Es musste sich sammeln, ehe er fragte: »Darf ich zu dir kommen, Elizabeth? Bald? … Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Ich muss … irgendwie versuchen, dir … dir zu …«

      »Du bist immer willkommen, Kenneth«, lächelte sie.

      »Dessen bin ich mir nicht so sicher«, murmelte er und war erstaunt darüber, wie nahe er daran war, aufzuschreien. »Ich will nichts von dir verlangen. Ich erwarte auch nichts von dir. Ich möchte nur, dass du verstehst …«

      »Ich verstehe alles, Kenneth«, erwiderte sie sanft. »Und natürlich kannst du kommen. Wann immer du willst. Wir werden uns beide freuen, Vater und ich.«

      Jackson wusste, dass Marvin Cooper sich ganz sicher nicht über seinen Besuch freuen würde. Jetzt und hier muss ich sie festhalten, erzählen und erklären – nicht mehr warten, schoss es ihm durch den Kopf. Aber da fiel die Ladentür ins Schloss, und er sah auf: Der alte grauhaarige Clark Marshall stand auf der Treppe. Es tropfte von den Enden seines unglaublichen Schnauzbartes und William Chapman war bei ihm. Chapman grüßte mit einer kurzen Handbewegung und Jackson winkte zurück.

      In diesem Augenblick entzog sich Elizabeth ihm. Sie nahm ihre Pakete fester in den Arm und machte sich auf den Heimweg. »Komm, wann du willst, Kenneth!«, rief sie ihm noch über die Schulter zu.

      Mit hängenden Schultern stand er da. Er fühlte sich elend, als er sie so gehen ließ.

      ***

      Kapitel 5

      »Ich bin ein alter Mann«, stieß Clark Marshall zwischen den feuchten Enden seines Schnauzbartes hervor. »Die Mädchen sind nichts mehr für mich. Aber verdammt will ich sein, wenn ich mich von einem jungen Windhund unterkriegen lasse und zuschaue …« Seine wässrigen Augen beobachteten Jackson, der noch immer genau dort stand, wo Elizabeth Cooper ihn verlassen hatte, und trostlos mit der Stiefelspitze eine gefrorene Lache zersplitterte.

      William Chapman hatte eine rote Tabaksdose aus der Tasche seines Regenmantels genommen und stopfte langsam seine Pfeife. Er sah der jungen Frau nach, die allmählich ihren Blicken entschwand. Chapman war um die dreißig Jahre alt und sein Haar war fast so rot wie seine Tabaksdose, die er in der Hand hielt. Seine Augen waren grau, sahen ehrlich und ein wenig betrübt aus. Chapman war ein Produkt der Gegend. Er war auf dem Bauernhof seines Vaters aufgewachsen. Seine erste Erziehung hatte er in der Dorfschule genossen, wo ein einziger Lehrer alle Klassen unterrichtete. Damals hatte er keine größere Stadt als das fünf Meilen entfernte Berkhamsted gekannt. Aber sein Vater hatte in seiner ganzen Starrköpfigkeit beschlossen, dass es sein Sohn weiterbringen sollte als er selbst. Ohne je darüber zu sprechen, hatte er Jahr für Jahr ein paar Pfund zurückgelegt, und als sein Junge mit der Schule fertig war, reichte es für die landwirtschaftliche Schule. Dort lernte William Chapman, den Boden zu verbessern und die Erde zu pflegen, die er abwechselnd liebte und hasste. Er kam mit Menschen in Kontakt, die einen weiteren Horizont hatten. Er war wissbegierig und interessierte sich für alles. Als er nach Hause zurückkam, begann er das Chapman-Gut umzuwandeln – es sollte mehr werden als ein Mittel, aus dem teils steinigen Boden das nackte Leben herauszukratzen. Dann kam seine Zeit als Soldat und er bekam etwas von der Welt zu sehen. Er war in den Kolonien, sah viele Menschen, aber auch den Tod. Und als er ehrenvoll entlassen wurde, kam er daheim gerade zurecht, um an seines Vaters Begräbnis teilzunehmen. Der alte Chapman hatte so lange durchgehalten, bis er wusste, dass sein Sohn zurückkommen würde – dann gab er es auf.

      Geld war keines da. Die Arbeit war für den alten Mann zuviel gewesen. Also musste William Chapman einen langen, bitteren Kampf beginnen und den Hof wieder instand setzen. Er schaffte es zwar ein Darlehen zu bekommen, aber schwer war es dennoch. Aus diesem Grund ließ er sich im Herbst als Polizeivorstand in den Gemeinderat wählen. Das bedeutete einen kleinen Zuschuss, und viel zu tun gab es nicht. Little Gaddesden war ein friedliches Nest. Abgesehen von gelegentlichen Schlägereien am Samstag, von einem Unfall oder einem kleinen Diebstahl, der einen offiziellen Bericht nötig machte, erforderte nichts das Einschreiten der Polizei.

      Ein Gefühl war seit langer Zeit in ihm verankert. Das war seine innige Liebe für Elizabeth Cooper, die er von weitem anbetete.

      Er hatte sie aufwachsen sehen und oft davon geträumt, sie eines Tages zu ehelichen, sobald es seine Verhältnisse erlaubten. Doch gerade, als es soweit war, erschien Kenneth Jackson auf der Bildfläche, und sein Traum war in Rauch aufgegangen. Elizabeth war so offensichtlich in Jackson verliebt, dass es aussichtslos schien, um sie zu kämpfen. Was Chapman besonders an ihr liebte, war ihr loyales Wesen – wenn sie einmal ihr Herz verschenkte, so war es für immer, das fühlte er. Und sie schenkte es Jackson, dem sie Monate hindurch immer näher kam. Er beobachtete sie und gab die Hoffnung auf. Dann brach das Unheil über sie herein. Er wusste, welch schweren Schlag ihr Stolz erlitt, als Jackson sie plötzlich verließ, weil Violett Stamford ihn sich geschnappt hatte. Elizabeth Cooper lebte ihr Leben automatisch weiter, doch er, der sie liebte, sah die stille Verzweiflung, mit der sie ihre Rolle spielte. Helfen konnte er ihr nicht. Es war ihre eigene Angelegenheit, wenn auch ganz Little Gaddesden davon wusste. Nicht einmal sprechen durfte er von Jackson, wenn sie nicht gerade selbst davon begann – und das tat sie in der Regel nicht. Er lud sie ein paar Mal zum Tanzen ein und einmal sogar ins Theater nach London. Sie schien dankbar dafür, dass er so tat, als hätte sich nichts geändert – und darum war es ganz unmöglich, ihr zu zeigen, was er für sie empfand.

      »Zeiten sind das!«, sagte Clark Marshall. »Wenn so ein junger Mann ein Mädchen mit all den Paketen auf dem Arm allein nach Hause laufen lässt … eine gute Meile. Zu meiner Zeit war man da weitaus galanter.«

      Die Spannung wich aus William Chapmans Gesicht, und er grinste Marshall vielsagend an. »Du alter Schurke!«

      Er lief zu seinem Pferdegespann und kletterte mit einem solchen Schwung auf den Kutschbock, als wollte er eines der beiden Pferde besteigen.

      »Na, vielleicht irre ich mich«,