Thomas Riedel

Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee


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einmal zu ihm hinüber und ließ die Peitsche knallen. Er ließ die Pferde antraben, wendete sein Gefährt vor dem Laden und fuhr Elizabeth hinterher. Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, doch er brachte die beiden Pferde zum Stehen.

      »Komm! Klettere rauf!«, rief er ihr zu.

      »Danke, William, aber ich will dich nicht von deinem Weg abbringen«, rief sie zurück, wohlwissend, dass er ihr absichtlich gefolgt war.

      »Ich bin auf meinem Weg!«, log er grinsend. »Ich muss zu Ralph Benson. Er soll mir den Kuhstall anstreichen … Komm, wirf deine Pakete hinten rauf.«

      »Eier wirft man nicht«, erwiderte sie mit einem Schmunzeln um die Lippen, legte ihre Pakete vorsichtig auf die Ladefläche der Kutsche und kletterte auf die Bank neben ihn.

      Er ließ die Pferde wieder antraben, und sie holperten langsam den ausgefahrenen Weg entlang.

      »Schön frisch ist es heute!«, begann er. Er traute sich nicht, sie anzusehen, denn wenn er es tat, würde er der Versuchung nicht widerstehen können, ihr zu sagen, dass sie froh sein sollte, Kenneth Jackson los zu sein, und dass es andere gäbe, die sich alle zehn Finger nach ihr ablecken würden …

      »Ich liebe den Winter«, bemerkte sie verträumt. »Ich liebe seine weiße Pracht und seine Strenge. Und außerdem … es ist so schön für Vater, wenn er arbeiten kann. Ungestört.« Sie lachte fröhlich auf. »Im Sommer unterbrechen ihn immer all die Ausflügler, die seine Bilder sehen wollen, und er zeigt sie ihnen, in der Hoffnung, es könnte vielleicht doch einer eines kaufen.« Ihre Stimme klang jetzt traurig. »Aber das kommt leider nur selten vor.«

      »Du weißt, was Clark sagt«, warf Chapman aufmunternd ein. »Wir haben hier nur zwei Jahreszeiten … August und Winter.«

      »So schlimm ist das doch gar nicht!«, gab sie lachend zurück.

      Er war glücklich, sie lachen zu hören. »Der alte Clark ist nicht dumm«, fuhr er fort. »Er weiß es zu leben. Niemals etwas tun, was keinen Spaß macht, ist seine Devise … Daran hält er sich. Natürlich muss er arbeiten, aber er macht auf seine Art einen gewissen Sport daraus.«

      »Niemand kann glücklich sein, wenn ihm seine Arbeit keinen Spaß macht«, bemerkte sie leise. Das Lachen war ihr vergangen und Chapman wusste genau, woran sie in diesem Augenblick dachte: An Kenneth Jackson, dessen Arbeit im Keim erstickt worden war.

      »Das bewundere ich so sehr an deinem Vater«, stellte er fest. »Nichts kann ihn von seiner Arbeit abhalten, solange er auch nur eine Minute Tageslicht hat. Er ist eifersüchtig auf die Zeit wie ein Verliebter.«

      »Ja. Vater geizt sehr mit der Zeit«, erwiderte sie leise. »Das kommt wohl daher, dass er so viele Jahre als Reklamezeichner für Journale schuften musste. Nun darf er endlich malen, was er will, und fürchtet immerzu, dass die Zeit nicht reichen wird.«

      »Er hat noch gut zwanzig Jahre vor sich.«

      »Mein Vater würde dir erwidern, dass das nicht sehr viel ist. Die ersten vierzig Jahre hat er vergeudet, behauptet er, und die nächsten zehn zum Lernen gebraucht. Jetzt fängt er dort an, wo die meisten Menschen schon lange ans Aufhören denken.«

      »Gerade darum wird er hundert Jahre leben. Arbeit hält jung! Er würde wie ein Jüngling aussehen ohne seinen scheußlichen Vollbart. Ich frage mich immer, warum er den überhaupt trägt.«

      »Weil er anders aussehen will als der schäbige Reklamezeichner, der ihm so lange aus dem Rasierspiegel entgegengegrinst hat, behauptet er. Er wollte ein anderes Gesicht haben, sonst würde er gewohnheitsmäßig Haferflockeninserate zeichnen. Aber der eigentliche Grund ist wohl, dass er sich einfach keine Zeit zum Rasieren gönnt.«

      Chapman hielt das Gespann am Straßenrand an. Der Weg vom Cooper-Häuschen bis zum Briefkasten war freigeschaufelt, aber auf dem Fahrweg lag hoher Schnee. Die Coopers besaßen kein Pferd und auch keine Kutsche.

      »Darf ich dir mit den Paketen helfen?«, fragte er.

      »Danke. Es geht schon. Aber komm ruhig herein und trink ein Glas mit meinem Vater.«

      »Nein. Ich muss wirklich zurück. Stanley ist zwar ein braver Junger, aber ich muss doch aufpassen, dass er keinen Unsinn macht.«

      »Hast du nicht vorhin gesagt, du musst zu Ralph Benson?«

      »Hochverehrte Miss, wenn ich mir das Vergnügen einer kleinen Lüge gestatte, ist das meine Angelegenheit!«, gestand er lächelnd ein.

      Die Haustür wurde geöffnet, und ein stämmiger, bärtiger Mann erschien im Rahmen des Lichtscheins. »Bist du es, Elizabeth?«

      »Ja, Vater!«, rief sie ihm zu.

      »Dann komm um Gottes willen herein und mach mir mein Abendbrot!«, brummte Cooper ungehalten. »Und bring deinen Flirt mit, damit er auch ein Stück Käse kriegt!«

      »Danke, aber ich muss zurück zu meinen eigenen Kohlrüben«, entgegnete Chapman.

      »Diese reichen Bauern! Denen ist es bei uns einfachen Menschen nicht gut genug!«, maulte Elizabeths Vater. »Und dann steht er dumm herum … Tun Sie was! Gehen Sie fort oder kommen Sie herein!«

      »Ich komme ein anderes Mal vorbei«, lachte Chapman. »Gute Nacht, Elizabeth.«

      »Gute Nacht, William, und hab lieben Dank fürs Mitnehmen.«

      »Immer zu Ihrer Verfügung, Miss!«, grinste er und tippte mit zwei Fingern an seine Hutkrempe. »Bis bald!«

      Sie wartete noch, bis er mit seinem Gespann um die nächste Biegung verschwunden war. Dann drehte sie sich um und schritt mit ihren Paketen langsam den Pfad zum Häuschen hinauf.

      ***

      Kapitel 6

      Marvin Cooper nahm seiner Tochter die Pakete ab und trug sie in die kleine Küche. Er war ein großer, breitgebauter Mann, dem der graue Vollbart und die buschigen Brauen ein recht grimmiges Aussehen verliehen. Dieser Eindruck wurde von den grauen Augen mit dem durchdringenden Blick noch verstärkt. Das Häuschen der Coopers war nicht für Marvin nach Maß erbaut worden. Er musste sich immerzu bücken, wenn er durch die Türen ging, und wenn er es einmal vergaß, schlug er sich den Schädel an, sodass er die englischen Architekten im Allgemeinen und das Haus im Besonderen häufig verfluchte.

      In den kleinen Räumen befand sich ein Mischmasch von Möbeln, die meisten davon in schlechtem Zustand. Er konnte noch so oft versprechen, die Sprungfedern des Polsterstuhls zu ersetzen oder das wackelnde Tischbein anzuleimen – sobald das Tageslicht anbrach, vergaß er alles und rannte in sein Atelier, das er am Nordende des Hauses angebaut hatte. Seine Tochter hielt den größten Teil des Hauses einigermaßen in Ordnung, nur das Atelier war für sie tabu. Stapel von Journalen, ausgedrückte Farbtuben, zerbrochene Pastellkreiden, Palettenmesser, leere Tabakdosen, das alles lag in buntem Durcheinander herum. Elizabeths Vater hatte nur zwei Interessen im Leben: seine überschwängliche Liebe für die Arbeit und seine fast ebenso leidenschaftliche Liebe für seine mutterlose Tochter. Aber es fiel ihm schwer, seine Gefühle auszudrücken. Wenn er etwas besonders zart anfassen wollte, zerbrach es zumeist in seinen riesigen Händen. Seine Finger, die auf dem Zeichenbrett die feinsten, zartesten Linien bilden konnten, waren auf allen anderen Gebieten rau und ungeschickt. Wenn er versuchte, seine Gefühle zu äußern, war das Ergebnis zumeist ein heftiger Angriff auf alle, die sein Kind unglücklich machen könnten.

      »Die Kennedy, diese idiotische Gans, kam vorbei«, berichtete er und duckte sich, um ins Wohnzimmer zu gehen, wo seine Tochter ihre Stiefel auszog. »Es scheint, dass Harold Stamford zurückkommt ... Wusstest du das?«

      »Ja«, antwortete sie und betrachtete angestrengt die Schnalle ihres Schuhs.

      »Diese verdammte Kuh tut immer gerade das, was man von ihr erwartet«, fuhr ihr Vater fort. »Jetzt will sie doch tatsächlich eine Willkommensfeier geben.« Er sprach das Wort ›Willkommensfeier‹ aus, als bezeichnete es eine besonders teuflische Tortur. »Sie lässt anfragen, ob du ihr bei den Vorbereitungen helfen willst. Ich habe ihr meine Meinung gesagt … Ich habe ihr gesagt, dass …«

      »Ach,