Thomas Riedel

Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee


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die verfluchten Klatschbasen herumsitzen und aus dir Hackfleisch machen können!«

      »Vater! Bitte!«, mahnte sie müde. »Siehst du nicht ein, dass ich helfen muss? Konntest du nicht mir die Entscheidung überlassen?«

      Marvin Cooper zerknüllte das Taschentuch, das er hervorgeholt hatte, um sich über seine Stirn zu wischen. »Haben diese Leute denn überhaupt Taktgefühl? Schweine sind sie! Alle! Nichts als widerliche Schweine!«

      »Aber Vater! Wir leben hier und ich kann mich nicht ausschließen. Das würde ihnen doch nur noch mehr Stoff zum Klatschen geben. Und du hilfst mir gar nicht, wenn du ihnen laufend sagst, was du denkst.«

      »Es hat nie etwas geholfen, wenn ich meine Gedanken verstecken wollte«, meinte er. »Es gelingt mir einfach nicht. Man sieht es meiner Nase sofort an.«

      Wider Willen musste sie lachen. »Ja, stimmt. Du weißt gar nicht, wie recht du damit hast!«

      Ihr Vater versuchte, eine seiner unvermeidlich verstopften Pfeifen mit Tabak zu versorgen, was ihm aber nicht gelingen wollte. »Diese Kennedy hat sich natürlich nicht zu fragen getraut, aber ich habe es gespürt, wie sie vor Neugierde platzt. Die will natürlich wissen, wie du auf die Neuigkeit reagierst. Wie ich darauf reagiere, das habe ich ihr gesagt: dass es mir schnurz und piepe ist, ob dieser vermaledeite Stamford zurückkommt oder nicht. Es ist zu spät!«

      »Ach, Vater!«

      »Aber so ist es doch!«, erklärte er und folgte ihr in die Küche, wo sie begann, das Abendessen zu bereiten. Er setzte sich auf eine Ecke des Küchentisches und nahm ihr den größten Teil der Arbeitsfläche weg. »Ich frage mich halt nur, was dieser Kerl von einem Jackson jetzt tun wird?«

      Sie machte Feuer. Dann holte sie die Bratpfanne hervor und packte die beiden Schweinekoteletts aus, ohne weiter aufzusehen.

      »Ich habe Kenneth auf dem Marktplatz getroffen«, ließ sie ihn wie nebenbei wissen. »Er wollte wissen, ob er herkommen darf.«

      »Du hast ihm natürlich erklärt, dass er sich zum Teufel scheren soll, oder?«

      »Nein, habe ich nicht. Ich habe ihm gesagt, dass er kommen könne.«

      »Elizabeth, … Liz, meine Kleine, … bist du vollends verrückt? Hast du denn überhaupt keinen Stolz?«

      »Aber Kenneth ist sehr unglücklich, Vater … Und er hat keine Freunde hier. Ich bin doch seine einzige Freundin … Ich muss ihm helfen.«

      »So wahr ich hier sitze, mein Kind«, rief er, »wenn Kenneth mit seinem Gewinsel herkommt, breche ich ihm das Genick … Das ist mein Ernst!«

      »Das wirst du ganz gewiss nicht tun, Vater!«, lachte sie. »Vergiss nicht, dass ich ihn eingeladen habe.«

      Er glitt vom Tischrand herunter, packte sie mit seinen großen Händen an den Schultern und zwang sie, ihn anzusehen. »Ja, liebst du den Burschen denn immer noch, Elizabeth?«

      »Ja, Vater«, antwortete sie daraufhin schlicht. »Ich glaube auch nicht, dass man plötzlich aufhören kann, jemand zu lieben, nur weil er einem wehgetan hat.«

      Cooper seufzte. Er packte seine Tochter fester und drückte sie an sich. »Verdammt, Kind! Ich kann es nicht aushalten, wenn man dir weh tut!«

      Sie schaffte es nicht direkt zu antworten, sonst hätte er die Tränen in ihrer Stimme gehört. Schließlich entzog sie sich ihm. »Du bist wirklich süß, Vater. Nun pass mal einen Augenblick auf die Koteletts auf, ja?«

      »Wohin gehst du?«

      »Ich muss Pauline Kennedy anrufen und ihr sagen, dass ich gern bei der Feier helfen will.«

      Er sah ihr nach, hob seine riesige Faust und schlug auf den Küchentisch. »Verflucht … verdammt und verteufelt!« Er achtete nicht auf den Teller, der dabei zu Boden fiel und klirrend zerbrach.

      ***

      Kapitel 7

      Pauline Kennedy hing die Hörmuschel am Wandtelefon ein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus: »Wie schön. Eine Unannehmlichkeit weniger!«

      Stanley, ihr sechzehnjähriger Sohn, blickte vom dem Schiffsmodell auf, an dem er seit mehreren Monaten eifrig bastelte. Stanley war etwas linkisch und unbeholfen. Körperlich glich er seinem Vater, doch seine Gesichtszüge waren nach denen Paulines geformt. Er sah den Saunders' ähnlich und hatte deren sanften Gesichtsausdruck mit der besorgten Miene.

      »Wer war das?«, wollte er wissen.

      »Elizabeth Cooper«, antwortete seine Mutter. »Sie will Papierhüte, Trompeten und die übrigen Sachen für die Feier besorgen.«

      »Klingt als würde es ein Kinderfest«, meinte Stanley spöttisch und beugte seinen blonden Kopf wieder tief über das Modell.

      Seine Mutter setzte sich in ihrem Lehnstuhl beim Kamin zurecht und nahm Bleistift und Papier zur Hand. Sie wurde von einigen Dorfbewohnern spaßeshalber ›die Listenreiche‹ genannt. Sie liebte Aufstellungen jeder Art. Sie schrieb sie für den Kaufmann, für Dinge, an die sie denken wollte, für Weihnachtsgeschenke fürs nächste Jahr, erstellte sie für Schmutzwäsche, obwohl sie die Wäsche selbst wusch, machte welche für ihre Sommerkleider und wo sie aufbewahrt wurden, Listen von Arbeiten, die der Erledigung harrten. Der einzige Nachtteil ihres Systems war, dass sie keine Liste besaß, auf der sie den Aufbewahrungsort dieser Listen notieren konnte, sodass sie die Tabellen niemals wiederfand, wenn sie sie benötigte. Darum begann sie immer wieder neue Listen anzulegen, bis man, wie ihr Mann abfällig betonte, in ihnen erstickte.

      Natürlich gab es auch eine Liste für die Feier. Namen standen darauf, Speisen, Getränke und Zigaretten, Hinweise wo zusätzliche Teller und Gläser auszuleihen waren, ein Vermerk ›Richter Brown wegen Orchester‹ und ein anderer, mehrmals unterstrichen ›mit Dr. F. sprechen‹. Stanleys Einwurf hatte ihre Aufmerksamkeit für den Augenblick von der Liste abgelenkt. Sie erinnerte sich an die wunderbaren Kinderfeste ihrer Jugend, als das Haus noch ihrem Vater gehört hatte. Alle Leute hatten Major Saunders für einen reichen Mann gehalten, was wohl an dem großen Haus lag. Immerhin hatte es vier Zimmer für die Dienerschaft, einen Stall für Reitpferde, sogar ein Schwimmbassin, Blumen- und einen Gemüsegarten, der den ganzen Ort ernähren konnte. Erst als der Major starb und das Haus seinem einzigen Kind, Pauline, hinterließ, stellte es sich heraus, dass nicht mehr da war als das Haus. Geldmittel waren nicht vorhanden.

      Den größten Schock erlitt Raymond Kennedy, der die Tochter des Majors geheiratet hatte, um nie wieder arbeiten zu müssen. Aber dieser Schock änderte nichts an seinen Zukunftsplänen: Er arbeitete nicht.

      Das Haus wurde allmählich baufällig, weil kein Geld für die erforderlichen Reparaturen da war und weil ihr Mann einfach nicht imstande war, mit Werkzeugen umzugehen. Die Zuleitungen des Schwimmbassins und das Abflussrohr waren verstopft, und man konnte es nicht mehr benutzen. Die Wohnräume leerten sich nach und nach, denn die Möbel von Wert wurden verkauft, wenn man Geld brauchte, und entweder durch Schund oder gar nicht ersetzt. Einige gute Bilder, darunter eines von Elizabeths Vater, die der Major besessen hatte, wurden ebenfalls zu Geld gemacht und halfen über ein paar Jahre hinweg. Darüber war sogar eine Fehde zwischen Raymond Kennedy und Marvin Cooper entstanden. Der Major hatte Cooper angeblich fünfzig Pfund dafür bezahlt, während der Verkauf nur etwas mehr als die Hälfte einbrachte. Paulines Mann behauptete, dass Cooper den Major hereingelegt hatte.

      »Und was soll ich tun, zum Teufel? Sterben, damit das Bild mehr wert ist?«, hatte er lautstark gebrüllt.

      Als der Erlös für die Möbel und Bilder weg war, blieb nichts anderes übrig, als Geld zu verdienen. Diese Aufgabe fiel Stanleys Mutter zu, nicht seinem Vater. Sie nahm Näharbeiten an, kochte Obst ein und lieferte Kuchen und Gebäck. Stanley, der sich oft über das Nichtstun seines Vaters entrüstete, arbeitete nach der Schule für William Chapman auf dessen Hof. Aber das alles war nicht genug. Schließlich war Major Saunders' Tochter gezwungen, sich noch weiter zu demütigen und Mieter ins Haus zu nehmen. Keine ständigen Mieter, sondern zahlende Gäste, die sich im Sommer mit Kricket und Angelsport und im Winter mit Wanderungen durch die Wälder