Thomas Riedel

Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee


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Enkelsohnes entsprach.

      Es war nicht leicht, zumal ihr Mann nie ganz nüchtern war und oft bissige Bemerkungen über ihre Tätigkeit und ihre Geduld machte, was seine Zuhörer zum Lachen brachte und Pauline vor Scham erröten ließ. Das hatte erst wieder vor ein paar Tagen zu einer Krise geführt: Stanley war aufgesprungen, bleich und zitternd, und hatte seinen Vater lauthals angeschrien: »Wenn du dich noch einmal über Mutter lustig machst, dann … dann bringe ich dich um!« Darauf wollte ihn sein Vater verprügeln, aber William Chapman war zugegen. Er hatte Stanley nach der Arbeit nach Hause gebracht. Als Kennedy auf seinen Sohn losstürzte, stand Chapman lächelnd zwischen ihnen – und sein Lächeln hatte etwas Bedrohliches. »Der Junge hat recht, Raymond!«, knurrte er. »Deine Witze sind meistens sehr unangebracht!«

      Raymond Kennedy lachte ein wenig gezwungen und kam merkwürdigerweise nicht mehr auf die Sache zurück – selbst nach Chapmans Fortgehen nicht.

      Stanleys Mutter seufzte noch einmal kurz und konzentrierte sich wieder auf ihre Listen. Erinnerungen haben den Nachteil, dass sie einen immer wieder in die Gegenwart zurückführen, dachte sie.

      »Wie könnte man Richter Brown dazu bringen, das Orchester zu stellen, ohne dass es unverschämt klingt?«, fragte sie plötzlich.

      »Du meinst wegen des Geldes?«, hakte Stanley nach.

      Sie nickte. »Alles andere: Essen, Getränke und der Rest soll beigesteuert werden. Aber die Tanzmusik … Sie sagen alle, wir sollen das Cunningham-Trio engagieren … Das kostet halt einige Pfund.«

      Er sah seine Mutter mit einem Lächeln an, das sie auf unangenehme Art an ihren Mann erinnerte. »Hat außer den Stamfords und dem Richter niemand Geld? Könnte man nicht eine Sammlung veranstalten? … Aber ich kann auch zum Richter gehen, wenn du willst. Er ist nett und hat es gern, wenn man ihn besucht. Es ist bestimmt nicht schön, alt und einsam zu sein.«

      »Er ist gar nicht so alt«, warf sie lächelnd ein. »Höchstens fünfzig. Ich habe ihn als junges Mädchen gut gekannt … Seine Leute waren oft bei uns zu Besuch.«

      »Es macht mir nichts aus, ihn zu fragen, Mutter. Ich gehe gern zu ihm. Er leiht mir immer Bücher, und manchmal spielt er eine Partie Schach mit mir. Natürlich bin ich viel zu schwach für ihn. Er ist ein ausgezeichneter Schachspieler. Also, wenn du willst, dann frage ich ihn wegen der Cunningham-Boys.«

      »Das ist lieb von dir, Stanley. Wenn du es ihm sagst, ist es weniger …« Sie unterbrach sich. So oft schon hatte sie ihn um Gefälligkeiten gebeten – so oft alles vertuscht, was ihren Mann betraf … »Und dann ist da noch etwas«, fuhr sie fort. »Dr. Finch.«

      »Was ist mit dem Doktor?«

      »Er kennt doch all die Leute gar nicht, und er ist hergekommen, um sich auszuruhen … Und er ist … ein bisschen sonderlich …«

      »Findest du. Ich mag ihn und sonderlich ist er auch nicht«, widersprach Stanley ohne vom Modellschiff aufzublicken. »Ich finde ihn richtig nett.«

      »Oh, … ich will nicht sagen, dass er nicht nett ist«, meinte sie. »Aber er sagt oft so sonderbare Dinge. Neulich, als ich meine Einkaufsliste verloren hatte, fragte ich ihn, ob er sie gesehen hätte. Er hat erwidert: ›Wenn Sie sich erinnern können, warum Sie sie verloren haben, dann werden Sie sich erinnern, wo Sie sie hingetan haben.‹ Das ist natürlich Unsinn, denn ich wollte sie ja nicht verlieren.«

      Dr. Charles Finch war derzeitig ihr einziger Mieter. Er war ihr von einem früheren Gast empfohlen worden und hatte einen netten Brief geschrieben, in dem er anfragte, ob er für zwei Wochen kommen könnte. Zur Erholung. Sie brauchten dringend Geld und ihr Mann hatte darauf bestanden, einen noch höheren Preis als gewöhnlich zu verlangen. Dr. Finch hatte ohne den leisesten Protest zugestimmt und war vor vier Tagen angekommen. Er war ein unauffälliger, kleiner, grauer Mann, den niemand zweimal ansah. Er verschmolz mit dem Hintergrund, als wäre er ein Teil davon. Seine Zeit verbrachte er mit der Lektüre sehr gelehrt aussehender Bücher und mit ausgedehnten Spaziergängen im Umfeld von Little Gaddesden. Inzwischen war er in der Hauptstraße des Dorfes eine vertraute Erscheinung. Bei den Mahlzeiten schien er sich wohl zu fühlen, aber er war nie sehr gesprächig. Er hörte nur aufmerksam zu, und wenn er einmal etwas bemerkte, klang es ein wenig merkwürdig, wie die Anmerkung über Paulines Einkaufsliste, die sie angeblich verlieren wollte. Eines Abends, als er nach einer Mahlzeit in sein Zimmer hinaufgegangen war, hatte Raymond Kennedy bemerkt: »Das ist der einzige Mann, der sich in ein Hotelregister mit einem Allerweltsnamen eintragen kann und dem man es sofort glauben wird.«

      Die Bemerkung richtete sich an Richter Brown und Jack Taylor, die zu Besuch gekommen waren. Beide hatten gelacht, nur seine Frau hatte die Pointe nicht verstanden.

      »Wenn du mit dem Doktor sprechen willst, da … er kommt gerade zurück«, bemerkte ihr Sohn.

      »Ach, du lieber Gott!«, entfuhr es ihr.

      Die Haustür ging auf und Dr. Finch trat ein. Er schüttelte den Schnee von seinen Überschuhen, bevor er sie auszog. Dann hing er Mantel und Hut an die Garderobe und wollte soeben die Treppe hinaufsteigen, als sie ihn anrief: »Oh, Dr. Finch, könnte ich vielleicht einen Augenblick mit Ihnen sprechen?«

      »Aber natürlich, Mrs. Kennedy.« Er kam ins Wohnzimmer. Stanley beobachtete ihn voller Neugier. Graue Haare, graue Augen, grauer Anzug. Dr. Finch war weder schön noch hässlich genug, um von irgendjemand bemerkt zu werden. Er war nur normal – normale Größe, Normalgewicht und keine besondere Kennzeichen.

      »Hallo, Stanley!« Er betrachtete eingehend das Modellschiff und nickte ihm anerkennend zu. »Hat du das gebaut?«

      »Nein«, schüttelte Stanley den Kopf. »Ich repariere es nur für Jack Taylor. Er gibt mir ein Pfund, wenn ich es für ihn neu auftakle und bemale.«

      »Das ist für eine so heikle Arbeit aber nicht viel«, lächelte Finch.

      Pauline Kennedy zappelte nervös mit ihrer Liste herum und sah an ihm vorbei. Seine Augen gingen ihr auf die Nerven – sie hatte immerzu das Gefühl, dass er ihre Gedanken lesen könnte. Und wie um das zu bestätigen, sagte er: »Wie ist das mit der Feier, Mrs. Kennedy? Wenn ich Ihnen dabei im Weg bin, kann ich gern bei einem Freund übernachten.«

      Sie sah ihn erstaunt an. »Sie wissen bereits von der Feier, Dr. Finch?«

      Er nickte schmunzelnd. »Ich habe gerade eine Quasselstunde mit Clark Marshall hinter mich gebracht, und er hat die Feier dabei erwähnt.«

      Sie wurde rot. Wenn er mit Clark gesprochen hat, so weiß er vermutlich über alles Bescheid, was uns Kennedys betrifft, schoss es ihr durch den Kopf, unsere Vergangenheit und unsere armselige Gegenwart.

      »Ich muss allerdings gestehen, dass ich hoffte, Sie würden mich einladen.« In seinen Mundwinkeln lag ein Lächeln. »Ich habe jetzt soviel über Mr. Stamford gehört, … da würde ich ihn schon gern kennenlernen. Aber ich weiß natürlich, es ist eine sehr spezielle Gelegenheit, und wenn ich im Weg bin …«

      »Aber nein, Doktor«, rief sie vergnügt. »Wir werden uns freuen, wenn Sie kommen!« Wenn er einen Tag fortbleibt, wird der Ausfall drei Pfund für uns bedeuten. »Ich fürchtete nur, es würde Sie stören, da Sie doch der Ruhe bedürfen.«

      »Ganz im Gegenteil. Ich liebe Geselligkeit«, erwiderte er. »Und nach allem, was Mr. Marshall mir berichtete, dürfte die Feier sehr interessant werden.«

      ***

      Kapitel 8

      Der alte Marshall saß auf einem Gepäckkarren im Bahnhof von Berkhamsted und sprach mit seinem neuen Freund, Dr. Charles Finch. »Schaut mir mehr nach einer Katzenmusik aus als nach einem Empfang«, bemerkte er.

      »Katzenmusik? Was meinen Sie damit?«

      »Wenn bei uns zwei heiraten, macht man ihnen eine in der ersten Nacht«, erklärte Marshall. »Mit Zinnpfannen und Katzenmiauen, bis das junge Paar genervt aufsteht, die ganze Bande ins Haus einlässt und ihnen etwas zu Essen und Trinken anbietet.«

      »Nicht gerade sehr schön für das junge Paar, … so ein Überfall