Sie sich keine Sorgen, sie wird wieder völlig gesund. Sie hat nur einen kleinen Schock erlitten. Wir müssen sie über Nacht hierbehalten, um handeln zu können, sollte es Komplikationen geben.«
»Können wir zu ihr?«, fragte Mrs. Manchester.
»Sicher, folgen Sie mir«, sagte der Arzt. Er führte sie einen Gang entlang, an dessen Ende ein großes Behandlungszimmer lag. Es gab dort mehrere Betten, die Plastikvorhänge voneinander trennten. Rachel lag im dritten Bett auf der rechten Seite. Man hatte ihr einen weißen, mit blass-blauen Blümchen verzierten Kittel angezogen. Sie hing an einem Tropf. Aber sonst schien sie wohlauf. Ihre Sachen hatten die Pfleger in einem schwarzen Müllsack neben dem Bett verstaut.
Rachels Mutter fing an zu weinen, schlang ihre Arme um ihre Tochter und schien sie nicht mehr loslassen zu wollen. Als sich alle beruhigt hatten, fragte Mrs. Manchester: »Wieso wart ihr überhaupt bei diesem alten Ding?«
Rachel sah zu Hendrik, er druckste etwas herum und meinte dann ausweichend: »Wir wollten einfach etwas alleine sein«, und schoss dann abschwächend hinterher, »Nur um uns ungestört unterhalten zu können.«
»Rede keinen Unsinn«, fiel seine Mutter ihm ins Wort, »das könnt ihr in deinem Zimmer genauso ungestört. Wie alles andere auch. Du weißt, dass ich damit kein Problem habe.«
»Moment, damit hätte ich aber ein Problem«, warf Rachels Mutter ein.
»Mom, bitte!«, warf Rachel flehend ein. »Keine Szene! Hendrik hat mir gerade das Leben gerettet.«
Drei aufgerissene Augenpaare starrten sie an und Hendriks Mine verriet ihr, dass sie das lieber nicht hätte sagen sollen.
»Was?«, die Stimme von Rachels Mutter nahm spontan einen hysterischen Unterton an. Dann drehten sich die drei Augenpaare auf Hendrik und erwarteten Rede und Antwort.
Hendrik ließ die Schultern sinken und erklärte: »Wir waren in dem Gebäude, als die Lawine abging. Glücklicherweise befanden wir uns in einem Teil, der nicht beschädigt wurde«.
»Schwachsinn!«, rief Hendriks Mutter. »Der Polizist sagte, dass das Gebäude komplett verschwunden sei und ihr Glück gehabt hättet, nicht drinnen gewesen zu sein.«
Hendrik fühlte sich zu müde und zu erledigt, um sich noch weitere Schlenker auszudenken. Schließlich erzählte er, was geschehen war, ohne etwas auszulassen. Als er seine Beschreibung beendete, ging James Manchester auf ihn zu und umarmte ihn.
Genau in diesem Moment stieß Theodore Prescott zu ihnen.
»Warum erzählt mir eigentlich niemand, dass etwas passiert ist?«
* * *
Das Unglück in der alten Fabrik hatte etwas Gutes hervorgebracht: Rachel und Hendrik hatten einen Rhythmus gefunden, in dem sie regelmäßig entweder in seinem oder in ihrem Zimmer alleine und ungestört sein konnten. Dienstags, sowie die Wochenenden blieben Ausnahmen. Sie mussten ihren Eltern versprechen, dass sie nie wieder in alte Gebäude stiegen oder sonst irgendwelche baufälligen Ruinen besuchten.
Manchester entwickelte bei Hendriks »Nachhilfestunden« einen ungeahnten Enthusiasmus und ging mit ihm die grundlegende Arbeit von Albert Einstein durch: »Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen«. Hendrik offenbarte ein natürliches Verständnis für Mathematik und begriff selbst die abstraktesten und kompliziertesten Konstrukte, die als Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie dienten, ohne die geringsten Probleme.
Mittags am 24. Dezember stiefelte Hendrik durch eine Schicht dünnen Neuschnees die North-Lake Road entlang. Es waren nur wenige Autos unterwegs. Die Luft fühlte sich klar und kalt an, sein Atem bildete Wolken vor seinem Mund. Der Himmel, genau wie das Licht, blieben grau und verhießen weiteren Schnee.
Hendrik bog in die Idaho Lane ab und steuerte auf die Nummer 32 zu, wo die Manchesters wohnten. Wie er wusste, wartete Rachel auf ihn. Ihr Vater hielt bis zum späten Nachmittag Vorlesungen an der Universität und ihre Mutter besuchte in San Diego eine ihrer Niederlassungen. Rachel würde gegen fünf mit ihrem Vater ihre Mutter vom Flughafen in North-Bend abholen und sie alle sollten um acht zu Hendriks Eltern kommen, zu einem gemeinsamen Weihnachtsessen. Das war der Plan.
Hendriks Mutter hatte ihn aus der Küche geschickt, sie würde bis zum Abend genug zu tun haben, ohne dass er ihr im Weg herumsaß. Lakaien-Dienste musste sein Vater ausführen und so blieb ihm nichts anderes übrig, als Rachels Einladung, zu ihr zu kommen, anzunehmen.
Der Weg zur Veranda der Manchesters war glatt, er musste aufpassen, dass er sich nicht auf den Hintern setzte. Dann klingelte er. Einige Sekunden später machte Rachel die Tür nur einen Spalt auf und ließ ihn herein. Sie trug keinerlei Kleidung und strahlte ihn an, als er in der Diele stand und es bemerkte. Sie flog praktisch mit ihm an der Hand die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, schloss ab und riss ihm die Kleider vom Leib. Sie liebten sich, solange sie konnten.
Gegen drei wurde das Risiko zu groß, dass ihr Vater unerwartet auftauchte. Sie gingen in die Küche und tranken Kaffee. Es hatte, wie erwartet, anfangen, in dicken Flocken zu schneien. Sie saßen nebeneinander an der Theke, hielten ihre heißen Tassen in den Händen und beobachteten durch die breiten Fenster, wie der Schnee langsam eine weiche, weiße Decke über den Garten legte. Das Licht wurde immer grauer und in der Küche wurde es düster, denn sie hatten die Lampen nicht angeschaltet. Rachel berührte sanft Hendriks Arm und flüsterte im Dämmerlicht: »Ich liebe dich«.
Hendrik wollte antworten, doch sie legte ihm einen Finger auf den Mund. Jedes Wort konnte zu viel sein. Er versank in ihren dunklen Augen und ihr Blick war so voller Liebe, dass ihm die Brust zu platzen drohte.
Dann klingelte es an der Tür.
Sie löste sich langsam und ging zum Eingang. Irritiert nahm Hendrik wahr, dass auf die Wände der Küche blaue und rote Blicklichter fielen. Er stand auf und folgte Rachel.
In der Diele standen zwei Polizisten. Hendrik erkannte einen davon als jene Polizistin, die sie nach der Schlammlawine gefunden hatte.
Er ging zu Rachel, dicke Tränen liefen ihre Wangen hinab.
»Es gab einen Unfall«, sagte sie, ergriff Hendriks Hand und drückte sie so fest, dass es schmerzte.
»In welchem Krankenhaus liegt er?«, fragte sie.
Die Polizistin suchte nach Worten, aber offensichtlich gab es keinen Weg, das, was sie zu sagen hatte, vorsichtig zu formulieren: »Kind, dein Vater ist von einem Lastwagen überrollt worden. Er war auf der Stelle tot.«
Wie ein Faustschlag traf ihn diese Nachricht. Er konnte nicht denken, nicht fühlen, er war wie betäubt. Rachel warf sich in seine Arme, doch er konnte nicht reagieren. Er streichelte ihr abwesend mit der Hand über den Rücken, hörte sie schluchzen und nahm entfernt wahr, dass die Polizisten auf sie einredeten. Aber er verstand kein Wort von dem, was sie sagten.
Sie nahmen Rachel mit. Sie mussten ihre Mutter am Flughafen abholen. Hendrik blieb alleine vor der Tür der Manchesters zurück, sah Rachel hinterher, die ihm aus dem Fond des Wagens einen Blick zuwarf, der sein Herz zerriss.
Schnee fiel ihm auf den Kopf, mechanisch setzte er die Wollmütze auf. Seine Füße fanden automatisch den Weg in die Cedar-Road. Seine Mutter kam aus der Küche heraus, als er nicht auf ihre Fragen antwortete, die er gar nicht wahrgenommen hatte. Sie erschrak bei seinem Anblick. Er war bleich und sein Blick leer. Sie schob ihn in die warme Küche, setzte ihn auf einen Stuhl und verlangte von ihm, sofort zu erfahren, was passiert war.
Sein Vater kam durch die Kellertür in die Küche, hielt zwei Dosen in seinen Händen und fragte: »Welche Bohnen wolltest du?«
»Shh!«, rief sie ihm zu und drehte sich zu Hendrik.
Er sah sie an und plötzlich konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
»Mr. Manchester hatte einen Unfall. Er ist tot.«
Sie hielt vor Entsetzen eine Hand vor den Mund und konnte sich nicht bewegen.
»Oh, Sohn, das tut mir wirklich leid«, sagte sein Vater. Er legte Hendrik eine Hand auf