Stephan Kesper

Sealed


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Wissenschaftlern, wie er konnte, die ihm auch bereitwillig über ihre Arbeit Auskunft gaben. Doch die von Manchester vorgeschlagenen »Assistenten-Dienste« erschienen eher als Entschuldigungen zu dienen, damit Hendrik überhaupt Zutritt zum Kontrollraum bekam. Ernsthaft etwas zu tun hatte er nicht. Manchester dafür schon. Und so konnte Hendrik die meiste Zeit eigentlich nur entweder ihm, Avi oder einem der anderen Anwesenden die Zeit stehlen. Er hatte zum Glück ein gutes Gespür dafür, wann die Wissenschaftler ihm noch freundlich antworteten, beziehungsweise wann es kippte und sie das Gespräch wieder beenden wollten. Nach der dritten Nacht entschied er sich, bei Rachel zu bleiben. Manchester reagierte darauf neutral, aber Hendrik hatte den Eindruck, dass es ihm im Grunde ganz recht war.

      In dieser vierten Nacht hatten sie nichts vor. In der Kantine saßen sie alleine herum und das einzige Geräusch kam von einer kaputten Neonröhre, die blinkte. Die Wissenschaftler – so vermuteten sie – befanden sich im Kontrollraum. So gab es nichts weiter für sie zu tun, also legten sie sich auf eine Decke vor ihrem Zelt und betrachteten gemeinsam die Sterne. Die Luft fühlte sich ungewöhnlich warm an, sodass sie sich bis aufs Nötigste auszogen. Und es dauerte nicht mehr lange, bis sie die Sterne vergaßen. Auch wenn Rachel keinen Sex wollte und die Kondome nicht um Einsatz kamen, hatte Hendrik das Gefühl, dass ihre Freundschaft mehr wurde, sehr viel mehr. In den folgenden Tagen gingen sie vertrauter miteinander um, als zuvor und in Hendrik kam zu der Überzeugung, dass dies der schönste Urlaub seines Lebens wurde. Aber wie jeder Urlaub, neigte er sich, schneller als erwartet, seinem Ende zu.

      Am Morgen ihres letzten Tages hatte Manchester eine Führung organisiert. Thomson holte sie bei ihrem bereits fertig gepackten Wagen ab und brachte sie mit einem kleinen Elektro-Karren zum VLBT-Gebäude hinauf zum Bergkamm. Als sie davor standen, begriffen sie erst die Ausmaße dieses gigantischen Klotzes. Inmitten der unberührten Natur der Berge wirkte der Würfel aus Aluminium auf seinem runden, drei Stockwerke hohen Sockel völlig deplatziert.

      Thomson führte sie ins Innere durch Korridore und über Treppen, mehrere Stockwerke nach oben.

      »Luft anhalten«, sagte sie schließlich und öffnete die letzte Tür, die sie in den zentralen Raum brachte, wo das Teleskop stand. Alle, selbst Rachel und sogar ihr Vater verstummten vor der schieren Größe dieser Konstruktion. Zunächst sahen sie einfach nur unzählige Rohre, die fast planlos miteinander verschraubt zu sein schienen. Doch sie folgten definitiv einem Plan, der sie an den Seiten zu zwei Gelenken führte, die das gesamte Gewicht des aus zwei Teleskopen bestehenden Geräts trugen.

      Es war mit Abstand die größte Maschine, die Hendrik je gesehen hatte. Staunend und mit offenem Mund lief er Thomson hinterher und hörte nur mit einem Ohr ihren Erklärungen zu.

      »Die Verwendung von zwei gleichen Teleskopen nebeneinander führt dazu, dass wir eine erhebliche Steigerung der Leistung erreichen. Die zwei, wenn sie zusammen arbeiten, haben eine höhere Auflösung, als ein doppelt so großes Teleskop. Die beiden Spiegel mit jeweils einem Durchmesser von knapp 15 Meter sammeln so viel Licht, wie ein Teleskop mit einem Durchmesser von guten 21 Metern.«

      »Das ist aber weniger als das Doppelte«, warf Hendrik ein. Rachel verschränkte die Arme und setzte ein Gesicht auf, als ob sie betrogen worden wäre, und sah Thomson an.

      »Das ist richtig junger Mann, aber wir haben einen Trick parat, der sich Interferometrie nennt. Das ist ein Verfahren, in dem diese beiden Teleskope dasselbe Objekt beobachten. Aber dadurch, dass sich die Teleskope an geringfügig anderen Positionen befinden, erhalten wir nach Überlagerung der Daten eine sogenannte Interferenz, die uns zusätzliche Informationen über das Objekt liefert. Damit erreichen wir eine Auflösung, die einem Teleskop mit einem 40 Meter Spiegel entspricht. Das ist mehr als das doppelte«, sie lächelte ihn an, »aber gut aufgepasst.«

      Sie führte sie eine Stahltreppe hinauf, die mehrere Stockwerke hoch sein musste. Manchester atmete schwer ein und aus, Hendrik merkte, wie er in sein T-Shirt schwitzte. Rachel schien es nichts auszumachen. Überraschenderweise genauso wenig, wie Thomson, die während der ganzen Zeit zusätzlich noch weiter die Technik des Systems erklärte und nicht einmal kurz Luft zu holen schien. Oben gab es eine Plattform mit einem löchrigen Metallboden. Hendrik konnte zwischen seinen Füßen hindurch viele Meter hinunter sehen und ihm wurde etwas flau im Magen.

      »Von hier aus könnt ihr die beiden Hauptspiegel sehen«, sie deutete in die Konstruktion hinein und Hendrik entdeckte zwei nebeneinanderliegende Wände, die aus sechseckigen Spiegeln bestanden. »Sie sind aus vielen dieser wabenförmigen Reflektoren zusammen gesetzt. Jeder dieser Spiegel kann elektronisch kalibriert werden. Das Licht, das von ihnen eingefangen wird, fällt auf den Sekundärspiegel, der es dann in diese 3.1 Gigapixel CCD Kamera leitet«, dabei zeigte sie auf einen Kasten, neben der Hauptachse des Teleskops.

      »Weitere Experimente können hier ebenfalls installiert werden, die dann gleich an Ort und Stelle das Licht abfangen.

      Über die Datenkabel kommen die Daten dann in den Kontrollraum«, sie zeigte auf zwei dünne graue Kabel.

      »Das ist es im Prinzip. Spiegelteleskope sind relativ einfach konstruiert. Die Herausforderung besteht darin, sie in dieser Größe zu bauen und trotzdem die Präzision zu garantieren, die wir für unsere Messungen brauchen.«

      Nach der Führung fuhren sie mit dem Elektro-Wagen wieder zurück nach unten und verabschiedeten sich von Thomson.

      »Ich hoffe, ich sehe dich irgendwann mit einem Abschluss in der Tasche hierher zurückkommen?«, fragte Thomson.

      »Das würde ich sehr gerne«, Hendrik schüttelte ihr die Hand. Sie winkte ihnen noch eine Weile hinterher, bis sie zwischen den Bäumen verschwand.

      Der Weg zurück durch die Wüste erschien Hendrik schneller als der Hinweg, da er ihn schon kannte. Irgendwo in der Einöde machten sie eine kurze Pause. Das Restaurant, bei dem sie hielten, erschien ihm noch schäbiger, als das Diner, das sie auf dem Hinweg besucht hatten. Sie setzten sich an einen Tisch in einer mit rosa Plastik bezogenen Sitzecke. Die spröde Oberfläche hatte Risse und die Schaumstofffüllung aus dem Inneren quoll heraus. Rachel ekelte sich, mit ihrer kurzen Hose darauf zu sitzen. Sie bestellten nur etwas zu trinken, da sie der Küche nicht vertrauten und Rachel verschwand in Richtung Toilette.

      »Hendrik, ich möchte dir danken.«

      »Wofür?«

      »Rachel und ich hatten in den letzten Jahren ein schwieriges Verhältnis. Ich bekam keinen Draht zu ihr und egal was ich machte, führte es nur zu einer Verschlimmerung der Situation. Aber in dieser Woche hatte ich das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung kommen könnte. Und ich glaube, dass das irgendwie mit dir zusammen hängt.«

      »Ich, äh«, Hendrik wusste nicht, was er sagen sollte.

      »Schon gut, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Aber wenn du irgendetwas brauchst, du hast bei mir mächtig was gut.«

      »Danke«, stammelte Hendrik verlegen, der nicht wusste, wie er reagieren sollte. Rachel rettete ihn aus der Situation. Sie setzte sich auf eine Serviette, um ihre Beine zu schützen und flüsterte: »Geht nicht auf die Toilette, das ist der reinste Horror.«

      Sie tranken schnell aus und fuhren weiter zum Flughafen. Als sie endlich in Lakeview ankamen, war die Sonne bereits unter gegangen. Manchester steuerte seinen BMW am Haus der Prescotts vorbei und blieb stehen. Er zog Hendriks Tasche aus dem Kofferraum, verabschiedete sich mit einem Händedruck und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Du bist jederzeit bei uns willkommen.«

      »Danke«, stammelte Hendrik.

      Rachel umarmte ihn lange und schien ihn gar nicht mehr loslassen zu wollen, hatte Hendrik das Gefühl.

      »Ich komme doch morgen wieder vorbei, wenn du willst.«

      »Natürlich will ich«, flüsterte sie und ließ ihn schließlich doch noch los.

      »Da seid ihr ja endlich«, rief Hendriks Mutter freudig von der Veranda in ihrem unverwechselbaren, aber an diesem Abend recht unauffälligen, niederländischen Akzent herunter und flog mit offenen Armen ihrem Sohn entgegen.

      Manchester und Rachel verabschiedeten sich noch von ihr und sie bedankte sich umständlich,