Stephan Kesper

Sealed


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Januar wurde er beerdigt. Es fanden sich mehr Menschen ein, als Hendrik zählen konnte. Nachbarn, Kollegen von der Uni, Freunde der Familie, Angestellte von Mrs. Manchesters Firma, selbst Kunden. Hendrik erkannte Ellie Thomson, die er am Observatorium kennengelernt hatte. Und viele andere, die er nicht zuordnen konnte.

      Das Loch in der Erde öffnete sich, wie ein dunkler Schlund, im Gegensatz zum Weiß des Schnees, der den restlichen Friedhof bedeckte.

      Er war Rachel in der letzten Woche aus dem Weg gegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Vielleicht wollte sie ihn nicht sehen, hatte ihren Kopf mit anderen Dingen voll. Und wenn er zu ihr ging, worüber sollten sie reden? Er wusste es einfach nicht und fühlte sich von seinen Eltern im Stich gelassen, die ihm keine Anleitung gegeben hatten, wie er sich in so einer Situation zu verhalten hatte.

      Ein Priester sprach Worte vom Jenseits, von einem besseren Leben, von Leid und Schuld. Sie fügten sich zu keinem sinnvollen Ganzen zusammen, Hendrik hörte auf, zuzuhören, und schaute sich um. An Rachels Augen blieb er hängen. Dunkle, schwarze Pupillen, die sich in ihn bohrten. Sie sah ihn direkt an und in ihrem Blick lag nichts mehr von jenem Blick, den sie ihm in der Küche geschenkt hatte. Er hielt nicht stand, er sah auf seine Füße und schämte sich.

      Zwei Tage nach der Beerdigung, zwang ihn seine Mutter, endlich zu Rachel zu gehen. Bevor er auf den Klingelknopf drücken konnte, riss sie die Tür auf.

      Ohne einen Augenblick zu zögern, schlug sie ihm mit der vollen Wucht des aufgestauten Ärgers ihre Hand ins Gesicht.

      »Wo warst du?«, schrie sie, so laut sie konnte. Ihre Stimme wurde von den Häusern der Straße zurückgeworfen.

      »Wo warst du, als ich dich am meisten gebraucht habe?«, fügte sie leiser hinterher.

      Hendrik starrte sie an und konnte kein Wort herausbringen. Ihr letzter Geduldsfaden riss, sie machte eine abwehrende Geste und warf die Tür ins Schloss.

      Er strich noch einmal über das Holz zum Abschied und drehte sich um.

      Rachel fehlte in der Schule für zwei Wochen. Als sie wieder kam und von ihren Mitschülern gemieden wurde, weil auch sie nicht gelernt hatten, mit dem Tod umzugehen, gab es keinen Suchscheinwerfer mehr wie früher. Er schaffte es, ihr meistens aus dem Weg zu gehen, obwohl er sich in jeder freien Minute nach ihr verzehrte. Er hatte zwei geliebte Menschen auf einmal verloren.

      Der Februar wurde ungewöhnlich warm und ließ den Schnee des Januars vergessen. Heftige Frühjahrs-Stürme peitschten den Pazifik an und überschwemmten Teile der Küste und den Highway. Wolken jagten über den Himmel und ließen immer wieder ein kleines Stück blau sehen.

      Hendrik ging jeden Tag nach der Schule am Haus der Manchesters vorbei, auch wenn es ein Umweg bedeutete. Er wollte nicht, dass ihre Beziehung endete. Und er hatte sich vorgenommen, Rachel zu erklären, warum er Abstand gehalten hatte. Dass es mit Unsicherheit zutun hatte und er ihr nicht zur Last werden wollte, dass er sie in ihrer Trauer nicht stören wollte.

      Er hatte sich einen Katalog von Argumenten und Antworten auf mögliche Fragen zurechtgelegt. Aber trotzdem traute er sich nicht, den letzten Schritt zu machen.

      Mitte Februar steckte im Vorgarten der Manchester das Schild eines Immobilienmaklers – das Haus sollte verkauft werden.

      Als er Anfang März am Haus vorbeikam, standen riesige Möbelwagen davor. Kartons und leere Regale warteten auf der Wiese darauf, in die LKW's verladen zu werden. Ein einsames, braunes Sofa hielt Wache.

      Er blieb stehen und feuerte sich innerlich an, endlich zu Rachel zu gehen, bevor es zu spät war.

      Dann sah er sie aus der Garage heraus kommen. Sie trug staubige Arbeitsklamotten und ein buntes Kopftuch, das ihre Haare schützte. Sie hielt einen offensichtlich schweren Karton vor ihrer Brust und schleppte ihn die Auffahrt herunter zum offenen Transporter.

      »Hallo Rachel«, sagte er sanft.

      »Was willst du?«, antwortete sie. Nicht abweisend, eher weil sie noch so viel zu tun hatte, dass keine Zeit für lange Gespräche blieb.

      Er gab sich selbst einen Tritt: »Was ich will ist, dass alles zwischen uns wieder so wie früher wird. Aber ich weiß, dass ich alles kaputt gemacht habe und ich weiß nicht, wie ich es in Ordnung bringen kann.«

      Sie seufzte, zog sich das Tuch vom Kopf und strich sich durch ihre dunklen Haare.

      »Ein angetrunkener Lastwagenfahrer hat alles kaputt gemacht. Du hast dich nur benommen wie ein Arsch.«

      Er fühlte, wie seine Wangen heiß wurden.

      »Wo zieht ihr hin?«, fragte er in einer Übersprunghandlung.

      »San Francisco. Mom hat endlich ihren Willen durchgesetzt, damit sie sich besser um ihre Firma kümmern kann.«

      »Willst du es denn?«

      »Zumindest will ich nicht länger in diesem Haus leben, wo mich jede Ecke an meinen Vater erinnert«, ihre Stimme brach.

      »Kann ich Euch helfen?«

      Sie lächelte müde, »Hilfe können wir jede gebrauchen, die wir kriegen können. Auch, wenn du das bisher nicht mitbekommen hast.«

      Er zog sofort die Jacke aus und warf sie mit seiner Schultasche auf einen der Stühle auf der Veranda. Rachel wartete an der Garage auf ihn und reichte ihm ein paar Arbeitshandschuhe. Dann zeigte sie auf das Regal, das die gesamte Breite der Rückwand einnahm und mit unnützem Kram vollgestopft war, von dem Hendrik sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand ihn aufheben wollte.

      »Das alles, muss in die da«, dabei zeigte sie auf einen Stapel noch nicht gefalteter Umzugskartons, »und dann in den Transporter. Ganz einfach, keine Relativitätstheorie, sorry.«

      Er stürzte sich in die Arbeit, damit sie nicht bemerkte, wie verzweifelt er war, dass sie wegzog.

      »Braucht ihr das alles noch?«, fragte er, als er ein kaputtes Dreirad in einen Karton legte.

      »Wir haben darüber geredet und keiner von uns will die Sachen durchsehen und Entscheidungen treffen. Also nehmen wir alles mit und sortieren später aus. Das Haus ist groß genug.«

      Sie brauchten zwei Stunden, bis das Regal endlich leer vor ihnen stand.

      »Ich brauche was zu trinken«, Rachel verließ die Garage durch die Seitentür. Dann kam sie noch einmal zurück und steckte ihren Kopf herein: »Du auch?«

      Hendrik nickte und folgt ihr.

      Die Küche befand sich in einem Zustand puren Chaos. Aber anscheinend hatten sie die Einrichtung mit dem Haus zusammen verkauft. Alles, was sich in den Schränken befunden hatte, stand auf dem Boden, den freien Fläche auf der Anrichte, der Arbeitsplatte und dem Esstisch. Halb leere Kartons standen dazwischen verteilt. Rachels Mutter saß auf dem Boden und versuchte aus ihrem angefangenen Durcheinander nachträglich schlau zu werden.

      Rachel goss zwei Gläser Wasser ein und reichte Hendrik eins.

      »Wie läuft es in der Garage?«, fragte Mrs. Manchester beiläufig, ohne aufzusehen.

      »Mit Hendriks Hilfe bin ich schon fertig.«

      Mrs. Manchester hob den Blick und lächelte Hendrik zu. »Schön, dass du mal wieder vorbeigekommen bist. Wir haben dich vermisst.«

      »Ja, ich habe mich benommen wie ein Arsch«, er wiederholte Rachels Worte.

      »Nun, so würde ich es nicht ausdrücken, aber: Ja«, sie nickte und lächelte sanft.

      »Gut, dass du da bist. Wir haben für dich eine Kiste gepackt.«

      Sie fragte Rachel: »Zeigst du sie ihm?«

      Rachel ging vor und Hendrik folgte ihr in den ehemaligen Arbeitsbereich von James Manchester. Sie deutete auf einen Karton, auf dem Jemand mit einem Marker »Hendrik« geschrieben hatte. Er öffnete ihn und fand darin einige Mathematik- und Physikbücher. Sowie diverse persönliche Aufzeichnungen, zwei Notizbücher, in denen Manchester anachronistisch mit einem Stift herum-gekritzelt hatte.