Thomas Hoffmann

Gorloin


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wissen, was sich noch alles ergibt und was nicht!“

      Sie antwortete nicht.

      Hinter mir führte Katrina den Packesel Fedurin am Strick. Der Esel war nicht glücklich über die Winterwanderung, aber es blieb ihm nichts übrig, als sich dem Willen seiner selbstbewussten Herrin zu fügen. Katrina ging aufrecht und geschmeidig. Sie war Anfang zwanzig, schlank und wenn es nach Sven und mir ging, die schönste Frau der Welt – oder zumindest, gab ich mir zu, war sie ebenso schön wie Ligeia. Ihr flachsblondes Haar hing zu einem festen Zopf geflochten über ihre Schulter. Ihre schwarze, gefütterte Ledermontur war ihr eng auf den Leib geschnitten. Den Helm hatte sie an ihren Rucksack geschnallt, ihren Rundschild trug sie über den Rucksack gehängt wie ich. Auch sie trug ein glänzendes, schlankes Schwert an der Seite.

      Sven ging neben ihr. Die beiden stritten leise über irgendeine Belanglosigkeit. Sven war einen halben Kopf größer und ein knappes Jahr älter als ich. Im Frühjahr nach der Schneeschmelze würde er zwanzig werden. Im Kettenhemd mit dem Wappenüberwurf in den Farben Dwarfencasts, Stiefeln, dem spitzen Helm und dem an den Rucksack geschnallten Zweihänder Herodin sah er aus wie ein Held der Vorzeit auf dem Marsch.

      ***

      Bis zum Abend wanderten wir in nordöstlicher Richtung den Tafelfelsen entgegen. Kat hatte Fedurin mehrere Lagen dicker Lappen um die Füße gewickelt, damit das Tier nicht im Schnee einsank. Nach zwei halbherzigen Versuchen am Morgen, seine grimmige Herrin doch noch zu einer Umkehr zum Turm und zum warmen Stall zu bewegen, stapfte der Esel ihr schicksalsergeben nach.

      Die Sonne stand im Westen über dem Nebel und die Felsformationen warfen schwarze Schatten über die Ebene. Je näher wir den Felsen kamen, um so zerklüfteter ragten sie vor uns auf.

      Lyana spähte zum ersten Felsenberg empor. „Da sind Ruinen. Möglicherweise Überreste einer alten Burg.“

      Sven kam an meine Seite. Er blickte abenteuerlustig in die Runde.

      „Wollen wir's uns ansehen? Vielleicht gibt's da was zu entdecken.“

      „Die Ruinen da oben erforschen? Nein danke!“ schnappte Kat. „Bestimmt wimmelt's da von bösartigen Geistern, die uns mal eben so zu den Sternen befördern wollen.“

      Sven sah sie erstaunt an. „Sonst warst du immer diejenige, die auf jedes Abenteuer los wollte.“

      Sie blickte missmutig zur Seite. „Die Abenteuerlust ist mir vergangen. Ich hab die Schnauze voll davon, meine Haut hinzuhalten für nichts und wieder nichts, ohne dass irgendwas dabei für uns rausspringt!“

      Bei Sonnenuntergang erreichten wir den ersten Felsturm. Das Lager für die Nacht schlugen wir im Windschatten der Felswand auf, außerhalb der Sicht des Moors. Das Feuerholz, das wir früh morgens gesammelt und Fedurin aufgebunden hatten, würde für zwei, drei Stunden wärmender Glut reichen. Ein wenig Holz hoben wir für den Kaffee am Morgen auf. Wir kochten Hafergrütze und aßen Brot, Käse und Dörrfleisch, da Lyana kein Jagdwild gefunden hatte.

      „Die Ebene ist wie ausgestorben,“ wunderte sie sich, als sie in der letzten Abenddämmerung von der Pirsch zu uns stieß. „Wie tot - kein Anzeichen für irgendwas Lebendiges.“

      Nach dem Abendimbiss holten Kat und Sven ihre Pfeifen heraus. Kat hatte unbemerkt einen Beutel Tabak aus den Beständen unseres Dienstherrn mitgehen lassen.

      „Pfeifentabak hat uns schon mal vor dem Verhungern gerettet. Ich werde nie mehr reisen, ohne einen Tabakbeutel dabei zu haben.“

      Lyana kramte in ihrer Ledertasche und hielt mir eine edel aussehende, bauchige Pfeife hin.

      „Deine ist in den Ruinen von Halbaru verloren gegangen,“ meinte sie mit verhaltenem Lächeln. „Ich dachte, du brauchst eine neue.“

      „Lyana!“

      Erstaunt betrachtete ich das anscheinend recht wertvolle Stück. „Sie ist gebraucht. Wo hast du die her?“

      „Geklaut,“ sagte sie harmlos. „Sie stammt aus Zosimos Pfeifensammlung. Ich hab mich gestern in seine Gemächer geschlichen, als er unten in den Laboratorien war.“

      „Ihr seid mir schon die Richtigen,“ brummte Sven kopfschüttelnd.

      „Weil wir gerade beim Thema sind,“ meinte Kat zwischen zwei Zügen an ihrer Pfeife, „unten in den Gepäcktaschen sind noch zwei Flaschen von dem Wein, den Smut uns vorgestern zum Abschiedsmahl kredenzt hat. Ich dachte, so einen Tropfen findet man nicht alle Tage. Vielleicht haben wir ja mal 'nen Grund zum Feiern - oder falls wir uns wiedermal aus 'ner richtig dreckigen Scheiße raushauen müssen und was zum Aufmuntern brauchen.“

      An die Felswand gelehnt rauchten wir unsere Pfeifen. Die Ebene verschwand im Nachtdunkel. Gedankenverloren schaute ich in die Glut des Lagerfeuers. Lyana saß dicht neben mir. An meiner anderen Seite legte Sven schweigend den Arm um Kat. Sie rückte an ihn heran. Zugleich spürte ich ihre Hand auf meinem Oberschenkel. Ich legte meine Hand auf ihre und sie verschränkte ihre Finger mit meinen, zärtlich und fest zugleich.

      Ich musste an den Tag im vergangenen Frühjahr denken, an dem Katrina nach Brögesand gekommen war. Der Augenblick, als Sven und ich ihr das erste Mal begegneten, ihr sprachlos gegenüberstanden während sie über unsere Verlegenheit schmunzelte, brachte dem Leben von uns dreien eine entscheidende Wende, ohne dass wir damals etwas davon geahnt hätten. Im Lauf des Sommers verbrachte Katrina immer öfter Zeit mit Sven und mir. Ich hatte mich bei unserer ersten Begegnung in sie verliebt. Sven ging es nicht anders. Letzten Herbst hatte sie uns überredet, die Küstenseeräuberei aufzugeben und dem rätselhaften Einladungsschreiben Zosimo Trismegistos auf seine Burg im Norden zu folgen.

      Die Stunden, die Katrina und ich zu zweit verbracht hatten und die Nächte, in denen wir uns liebten, ließen für mich keinen Zweifel, dass es wirklich Liebe war, was sie für mich empfand. Aber sie hatte auch mit Sven Nächte verbracht, immer wieder, und was sie für ihn empfand, war wohl genauso intensiv wie die Gefühle, die sie für mich hegte. Sie hatte versucht, uns zu einer Dreierbeziehung zu überreden. Aber weder Sven noch ich waren dazu bereit gewesen. Und insgeheim, das wusste ich, litt sie noch immer darunter, dass Andreas Amselfeld, der Militärarzt, der ein paar Monate lang ihre große Liebe gewesen war, sie für eine andere Frau verlassen hatte.

      Wir saßen an den Felsen gelehnt, bis die Glut des Lagerfeuers erlosch und wir uns alle vier dicht beieinander in unsere Decken hüllten.

      ***

      Im ersten Tageslicht kochten wir Kaffee und Hafergrütze, die wir mit Brot und Speck aßen. Dann brachen wir das Lager ab und machten uns auf den Weg. Es fiel kein Schnee, aber eisiger Wind strich von der Küste her über das Land. Ich war froh über den gefütterten schwarzen Kapuzenumhang, den Ligeia mir gegeben hatte. Ich schlug ihn fest um mich und zog mir die Kapuze über den Kopf. Fedurin stapfte vor Kat her durch den Schnee, als wollte er schneller vorankommen. Vielleicht schwebte ihm ein warmer Stall in erreichbarer Nähe als Ziel unserer Fahrt vor.

      Ich deutete voraus zwischen den Felsen hindurch. „Heute Abend erreichen wir die Schlucht, die zu den Ahnenhügeln hinaufführt. Von den Ahnenhügeln ist es nur noch ein knapper Tagesmarsch am Fuß der Nordberge entlang bis zu den Wäldern.“

      Einen kurzen Moment lang blickte Lyana mich erschreckt an. Aber sie wandte sich gleich wieder ab.

      Seit wir die Wälder auf unserer ersten Fahrt erblickt hatten, waren sie Lyanas Ziel: die Erfüllung der Wahrsagung einer alten Frau, hier im Norden würde sie finden, wonach ihr Herz sich sehnte, nachdem ihr Vater, ein Fallensteller in den Wäldern des Südens, gestorben war. Schon vor Wintereinbruch hatte ich Lyana versprochen, mit ihr dorthin zu gehen. Stattdessen waren wir nach Halbaru gezogen. Noch immer grenzte es für mich an ein Wunder, dass wir diese Höllenfahrt überlebt hatten. Und Kurmuk Dakar war schlimmer als die Ruinenstadt Halbaru.

      ***

      Im Windschatten des letzten Tafelfelsens machten wir Rast, aßen vom Proviant und tranken eiskaltes Wasser aus unseren Schläuchen. Kurze Zeit später zogen wir bereits wieder über die windgepeitschte Schneeebene. Die Dämmerung