Thomas Hoffmann

Gorloin


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verzog das Gesicht. „Es rettet uns aber kein höheres Wesen. Kein Gott, kein Kaiser und kein tyrannischer Statthalter. Wir müssen uns selber helfen, oder wir bleiben im Elend stecken!“

      „Irgendjemand hat uns geholfen,“ meinte ich.

      Ich stand auf, um zu Lyana zu gehen.

      „Nein, lass,“ sagte Kat. „Das ist jetzt meine Aufgabe.“

      Sie ging zu Lyana und setzte sich neben sie. Nach einer Weile rückte Kat dicht an Lyana heran. Die beiden nahmen sich in die Arme. Eng umschlungen blieben sie nebeneinander sitzen.

      Ich setzte mich neben Sven. Zusammen schauten wir zu den beiden Frauen hinüber. Ich sah Sven an. Er atmete tief durch. Wir brauchten keine Worte, um uns zu verständigen.

      „Wenn ich gewusst hätte, in was Katrina uns reinzieht,“ sagte Sven leise mit seiner tiefen, voll tönenden Stimme, „ich wär' trotzdem gegangen!“

      „Klar,“ meinte ich.

      ***

      Als die Kälte mich im Morgengrauen aus blutigen Träumen weckte, war Lyana schon aufgestanden. Kat und Sven schliefen noch. Ich erwachte mit dem Geschmack von Rost und Blut im Mund, im Ohr die Todesschreie eines gequälten Tiers und das dumpfe Geräusch von Eisen, das klaffende Wunden in Fleisch schlägt.

       Noch vier Tage bis Vollmond.

      Vorsichtig tastete ich unter meinem Hemd nach dem Lederbündel mit dem mumifizierten Menschenohr, das Ligeia mir vor unserer Fahrt in die Nordberge gegeben hatte, damit ich sie in der Not rufen konnte. Seit damals trug ich es bei mir.

      Beim Frühstück zog Kat Sven damit auf, dass er sich in Kingerhag als Ritter König Ertelreds eine Kutsche kaufen müsste, weil er auf einem Pferd inzwischen zwar recht stattlich sitzen, aber nicht darauf reiten könne. Während die beiden scherzhaft miteinander stritten, nippte Lyana an ihrem Kaffee und blickte ausdruckslos vor sich hin. Ihre Grütze hatte sie kaum angerührt. Sie kam mir blasser vor als sonst. Als Sven und Kat aufstanden, um das Zelt abzubauen, laut miteinander streitend über den militärischen Nutzen von Reitpferden und ihren Wert für die Menschheit im Allgemeinen, rückte ich dicht zu Lyana. Sie hielt immer noch den halbvollen Kaffeebecher in den Händen.

      „Heute Nachmittag erreichen wir die Urwälder, Lyana.“

      Sie atmete heftig aus und sah mich unglücklich an. „Leif, ich weiß, es ist unsinnig, aber ich habe entsetzliche Angst, in die Wälder zu gehen.“

      Ich legte den Arm um sie. „Es war immer dein Traum, Lyana.“

      Sie lehnte sich an mich.

      „Deshalb ja,“ flüsterte sie. „Ich hab Angst vor der Wirklichkeit. Das stille Atmen der Bäume, wenn ich Seite an Seite mit meinem Vater durch den Wald ging, die Musik der Wälder - das sind doch alles nur Kindheitserinnerungen. Vielleicht ist es in Wirklichkeit nie so gewesen wie in den Träumen, die ich träume, seit ich unterwegs bin.“

      Sie seufzte. „Leif, wenn ich heute, wenn wir in die Wälder kommen, Bäume und Walddickicht finde ohne die stille Musik, wenn der Wind in den Wipfeln dort einfach nur Wind ist, nichts sonst, der Wald keine Seele hat, genau wie es war, als ich aus den Wäldern im Süden weggegangen bin...“

      Verzweifelt sah sie auf die vereiste Seefläche hinunter, die noch im Schatten der Bergflanken lag.

      „Was soll mir das Leben denn noch, wenn ich keinen Traum mehr habe, keine Hoffnung?“

      „Als ich auf der Landspitze von Halbaru keine Hoffnung mehr hatte, hast du sie mir wiedergegeben, Lyana. Man kann immer Hoffnung haben!“

      Sie blickte stumm vor sich hin.

      Ich versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen. „Diese Stimme gestern in den Ahnenhügeln, bevor das Schattenheer verschwand - hast du ihre Worte verstanden?“

      „Es war die Sprache der Herren des Waldes,“ meinte sie. „Die Gestalt auf dem Hügel beschwor die Geister bei der Macht Landorlins. Aber ich habe nicht verstanden, ob die Gestalt Landorlin angerufen hat - oder ob es Landorlin selbst war, der die Geister vertrieb.“

      „Landorlin - wer ist das, Lyana?“

      „Er ist der Urvater der Herren des Waldes, der Älteste. Es heißt, aus einem Schössling des Salabaumes sei er dem Licht entgegen gestiegen, am Morgen der Welt. In der Sprache der Herren des Waldes ist Landor der frühe Morgen. Es ist seine Stunde - die Stunde des Morgentaus, die Stunde der Schöpfung.“

      „Habt ihr genug geschmust?“ rief Kat zu uns herüber. „Dann können wir nämlich aufbrechen. Fedurin ist schon ganz versessen auf den Marsch. Er denkt, je eher wir heute ankommen, um so schneller wird er sein Gepäck wieder los!“

      ***

      Die zerklüfteten Bergflanken zu unserer Rechten entlang wanderten wir über die sanft gewellte Ebene dem Wald zu, der in der Ferne bis hoch in die Gebirgstäler hinauf stand. Schleier von Morgendunst stiegen aus den Wipfeln. Die Ebene zwischen dem See und dem Gebirge lag im Schatten der Bergriesen, aber vor uns in der Ferne, wo der Wald sich ausbreitete, wichen die Gipfel hinter den weiten Tälern zurück und der Morgennebel zwischen den Nadelbäumen glänzte hell im Sonnenlicht.

      Der Schnee war fest und selten mehr als knöcheltief. Wir kamen gut voran. Das schilfbestandene Ufer wich nach und nach zurück und die zum See hin abfallende Ebene wurde breiter. Bald säumten Weiden das Seeufer. Lyana strebte uns voran, nur selten schaute sie sich nach uns um. Wir wanderten zwischen Birkengehölzen und vereinzelten alten Birken hindurch, die ihre kahlen Äste in einen Himmel streckten, der seit Tagen zum ersten Mal wolkenfrei war. Nur oben in den steilen Graten der Nordberge hingen graue Wolken. Als gegen Mittag die Sonne über den Gipfeln erschien und die verschneite Landschaft begann, hell im Sonnenschein zu glänzen, rasteten wir unter den Ästen einer großen Birke, kauten Dörrobst und rauchten unsere Pfeifen. Ich betrachtete Lyana, aber sie erwiderte meinen Blick nicht. Sie saß aufrecht da mit untergeschlagenen Beinen. Ihre flinken Augen wanderten über das Gelände, als wollte sie jedes Merkmal, auch die kleinste Einzelheit in sich aufnehmen.

      Den Nachmittag über blieb es sonnig und die Wolken zwischen den Gipfeln der nach Osten zurückweichenden Bergkette verflüchtigten sich. Es war annähernd windstill. Unsere Schritte knirschten im glänzenden Schnee. Die Sonne auf meinen noch vom Nachtfrost klammen Kleidern tat wohl. Auch Fedurin schien die Sonne auf seinem Fell zu genießen. Er stieß einen langen, weit in die Ferne hallenden Eselsschrei aus.

      „Schsch!“ Lyana lief zu Fedurin zurück, der Kat am Strick hinterherging.

      Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und flüsterte ihm etwas in die aufgestellten Ohren. Fedurins Kopfbewegung sah aus, als würde er widerstrebend nicken.

      „Es ist keine gute Idee, unsere Ankunft in die Wälder hinauszubrüllen,“ meinte Lyana warnend.

      Die Birken machten jungen Fichtendickichten und einzeln stehenden großen Kiefern Platz. Lyana lief weit voraus, vorbei an Gruppen von Tannen und Fichten, die keinen Weg boten zwischen ihren schneebedeckten Zweigen, und unter Nadelbaumriesen hindurch von einer Art, die ich nie zuvor gesehen hatte. Wir stiegen über kleine Bäche, die steinige Rinnen in die Landschaft gruben und gingen über Lichtungen im warmem Sonnenschein, auf denen gleißender Schnee uns blendete.

      Das Land begann nach Norden hin anzusteigen. Die Baumriesen rückten näher zusammen. Ich blickte mich atemlos um unter ausladenden, mit Flechten bewachsenen Astarmen bemooster Urwaldriesen, die ihre sonnenbeschienenen Spitzen in schwindelnde Höhen streckten. Die Luft schien mir feuchter und wärmer als in der freien Ebene. Auf schneefreien Flächen im Windschatten der gewaltigen, gefalteten Stämme wuchs Moos. Zwischen ihren Wurzeln hätten wir vier gut und gerne ein gemeinsames Nachtlager gefunden. Auch Kat und Sven waren stehengeblieben. Fedurin stand dicht bei Kat mit aufgerichteten Ohren. Sven sah sich tief durchatmend um. Grünliches Dämmerlicht herrschte zwischen den Baumgiganten. Graue Flechten von der Größe von Betttüchern hingen von Ästen, die dicker waren als die Baumstämme, die ich von der Küste her kannte. Kat