Thomas Hoffmann

Gorloin


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wir durch den Wald ins Tal hinabstiegen, kam Lyana an meine Seite. Vorsichtig nahm sie meine Hand.

      „Es tut mir leid, Leif,“ sagte sie stockend. „Es ist alles meine Schuld.“

      „Du konntest nicht wissen, was passieren würde, Lyana.“

      Sie sah mich verzweifelt an. „Die Elben im Süden waren zu meinem Vater und mir immer freundlich. Mir hätte klar sein müssen, dass sie uns hier als Eindringlinge betrachten. Sie hätten uns umgebracht, wenn Aeolin nicht dabei gewesen wäre.“

      „Aeolin?“

      „Die junge Kriegerin. Sie hat den höchsten Kriegerrang, den der Clan vergibt. Krieger von niederem Rang dürfen ihr nicht widersprechen, ohne dass es eine Herausforderung zum Zweikampf wäre.“

      „Sie scheint ein ganz junges Mädchen zu sein.“

      „Bei Elben lässt sich das Alter nur schwer schätzen. Ich glaube, sie ist ungefähr so alt wie ich.“

      „Was hast du ihr gesagt?“

      „Schon dem Krieger, der zuerst mit mir sprach, habe ich den Namen meines Vaters genannt, und dass er ein Freund der Elben im Süden war. Aber er antwortete nur, auch Raben können sprechen lernen, das mache sie nicht zu vernünftigen Wesen. Aeolin kannte meinen Vater vom Namen her...“ Sie stockte mitten im Satz und sah mich mit Tränen in den Augen an. „Du hast es immer gesagt, Leif.“

      „Was?“

      Zögernd hauchte sie: „Aeolins Familie ist über Freundschaftsbande mit der Familie meiner Mutter verbunden, obwohl über die weite Entfernung schon lange keine Kontakte mehr bestehen - Aeolin wusste den Namen meiner Mutter.“ Einen Moment lang konnte sie nicht weitersprechen.

      Wie erstickt sagte sie schließlich: „Meine Mutter war Elbin.“

      Ich drückte fest ihre Hand.

      Lyana kämpfte mit sich, bis sie ihren nüchternen Gesichtsausdruck wiederfand. „Den anderen Kriegern hat Aeolin zum Beweis mein Amulett gezeigt, das die Elben im Süden mir gaben. Als sie nach euch fragte, musste ich die Wahrheit sagen - lügen ist nach dem Recht der Herren des Waldes ein schweres Verbrechen. Sie würden jeden töten, den sie einer Lüge überführen.“

      Ich musste mich räuspern, bevor ich wieder sprechen konnte. „Dieser Rat der Alten, was hat es damit auf sich?“

      „Aeolin hat es mir erklärt,“ meinte Lyana. „Alle Krieger des Clans bilden die Ratsversammlung, in der alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Frauen und Kinder haben dort keine Stimme.“

      „Aber diese Aeolin ist ein Mädchen!“

      „Sie ist Kriegerin der dritten Feder,“ erklärte Lyana. „Es stimmt, Aeolin sagte, es ist äußerst selten, dass eine Frau in den Kriegerrang aufgenommen wird, aber sie meinte, sie hätte es eben mit aller Macht darauf angelegt. Die Stimmen der ältesten Krieger haben in der Ratsversammlung großes Gewicht. Keiner der Jüngeren würde ihnen widersprechen. Die Alten müssen jetzt entscheiden, was mit uns geschehen soll. Eigentlich,“ sie schluckte, „eigentlich ist es Fremden bei Todesstrafe verboten, das Gebiet des Clans zu betreten.“

      Die Elben führten uns ins Tal hinab und durch den verschneiten Wald an den Fluss. Am Flussufer wandten die Krieger sich flussabwärts und machten mit Armen und Händen abwehrende Zeichen. Dabei murmelten sie beschwörende Worte. Dann machten sie kehrt, nahmen uns in die Mitte und gingen den Fluss hinauf. Es waren noch acht Krieger, die uns begleiteten, Aeolin eingerechnet. Auch Lohan war dabei.

      Lyana wechselte ein paar Worte mit Aeolin. Dann kam sie zu Kat, Sven und mir zurück.

      „Das Gebiet flussabwärts bei der Flussmündung am See gehört nicht zum Gebiet des Clans,“ erklärte sie. „Sie sagen, dort treibe eine schwarze Hexe ihr Unwesen. Mit ihren Bannsprüchen wollen sie sie von ihrem Gebiet fernhalten.“

      Wir tauschten stumme Blicke. Allen von uns war klar, wer dort an der Flussmündung sein Unwesen trieb.

      Die Uferböschung und der Wald sanken in die Dunkelheit. Die Elben gingen ohne Licht, immer dem Fluss aufwärts folgend, der sich irgendwann nach Osten wandte. Zuweilen ging es steil bergan über steinige Hänge, auf denen ich in der Dunkelheit über Wurzeln und Felsstufen stolperte. Ich fühlte mich müde und ausgezehrt. Wären wir unter uns gewesen, wir hätten längst unser Lager aufgeschlagen und am prasselnden Feuer das Jagdwild verzehrt, das Lyana zweifellos gefunden hätte. Fedurin versuchte Kat ein oder zweimal auf Eselart daran zu erinnern, dass es Zeit sei, den Tagesmarsch zu beenden. Aber er tat es nur zaghaft, und als sie entschieden am Seil ruckte, kam er ihr schicksalsergeben hinterher.

      Wir gingen jetzt dicht beieinander in der Dunkelheit. Von den Elben sahen wir nur Schatten. Bei dem schnellen Marschtempo stolperte ich immer wieder auf dem unwegsamen Ufergelände. Sven und Kat ging es nicht anders. Wir wechselten kein Wort miteinander, aber ich wusste auch so, worüber die Gefährten sich Gedanken machten. Ich befürchtete das Schlimmste.

      ***

      Das Unterholz wurde seltener. Schließlich verschwand es ganz. Es ging nicht mehr bergan. Wir folgten den Elben auf einem gewundenen Pfad durch ein Gehölz dicht stehender Stämme unterschiedlicher Größe. Der Schnee unter unseren Füßen war festgetreten. Die Elbenkrieger strebten jetzt schnell voran. Vor uns, einen Steinwurf vom Flussufer entfernt, sah ich Feuerschein zwischen den Bäumen. In der Dunkelheit konnte ich die Gesichtszüge meiner Gefährten nicht erkennen, aber ich spürte ihre Anspannung.

      Wir traten aus dem Gehölz. Unter den ausladenden Kronen von Bäumen mit mächtigen Stammumfängen von einer Art, die ich nicht kannte, tat sich ein von Unterholz freier Platz auf. In der Mitte der Lichtung loderten die Flammen eines Feuers übermannshoch in den Nachthimmel. Langgestreckte Lehmhütten mit flachen, rindengedeckten Dächern verteilten sich zwischen den Bäumen über die Lichtung. Die schlanken Gestalten der Elben waren zwischen den Hütten zu sehen: Krieger mit langen Messern in den Gürteln über ihren mit Fransen versehenen Lederwämsern, Frauen in langen, weichen Lederkleidern, Kinder, auch sie in der gleichen Kleidung wie die Erwachsenen. Die Frauen waren fast alle ein bis zwei Köpfe kleiner als die Männer. Sie waren von zierlicher, schlanker Gestalt. Alle Bewohner der Waldsiedlung trugen ihr helles Haar von Stirnbändern gehalten. Irgendwo auf der Lichtung sang eine Frauenstimme einen sanften, melodischen Gesang.

      Von einem Baum am Rand der Siedlung hing eine Strickleiter herab. Ich spähte in die Baumkrone. Unter dem dunklen Sternenhimmel erkannte ich hoch oben in den Baumästen die Umrisse einer Plattform. Ich entdeckte mehrere dieser Baumplattformen rings um die Lichtung verteilt.

      Die Krieger führten uns dem Feuer in der Siedlungsmitte entgegen. Krieger, Frauen und Kinder hielten an, schauten von ihren Tätigkeiten auf und sahen uns mit reglosen Gesichtern nach, wie wir mit unseren Waffen, den bepackten Esel in der Mitte, zwischen den Lehmhütten hindurchgingen. Zwischen Pflöcken waren Felle zum Trocknen aufgespannt. Unter den vorspringenden, auf hölzerne Pfosten gestützten Rindendächern an der Längsseite der Hütten standen große Webrahmen. In den Längsseiten reihte sich Türöffnung an Türöffnung. Es sah aus, als hätte jeder Raum seine eigene Tür nach außen. Fenster gab es keine. An der Rückseite der langen Häuser lagen schneebedeckte Ackerbeete hinter niedrigen Knüppelzäunen. Magere Hunde liefen im Lager umher. Etwas weiter ab sah ich eine Koppel. Eine Gruppe kräftiger Ponys mit struppigem Fell war darin eingezäunt.

      Rings um das hoch auflodernde Feuer standen Tontöpfe und Krüge auf dem Erdboden. Frauen hockten neben Bastmatten, auf denen sie Essen zubereiteten. Kinder schlugen mit Stöcken nach den bettelnden Hunden. In einem weiten Kreis um das Feuer standen niedrige Bänke aus bearbeiteten Baumstämmen. Auf einer saßen drei oder vier Krieger beieinander und rauchten abwechselnd aus einer langen Pfeife. Sie hatten die faltigen, wettergegerbten Gesichter alter Männer.

      Der Krieger, der uns geführt hatte, deutete auf eine am Boden ausgebreitete Lederhaut. „Hier müsst ihr eure Waffen und Rüstungen ablegen.“

      Vier Krieger stellten sich mit ihren Bögen in den Händen um uns auf. Sie hatten die Bögen