Thomas Hoffmann

Gorloin


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in Bastsandalen. Die Hand, die den langen Stab hielt, war mager und knochig. Die Haut am Kopf und an den Händen war fleckig gelb. Nur wenige schlohweiße Haarsträhnen hingen von seinem faltigen Schädel. Er hielt den Kopf mit dem eingefallenen, zahnlosen Gesicht hoch erhoben, als lausche er im Gehen. Sein Gang war langsam, wie tastend, und er schob das untere Ende seines Stabs vor sich her wie ein Blinder. Ich sah seine trüben, pupillenlosen Augen. Er war tatsächlich blind.

      Langsam, als suche er seinen Weg aus der Erinnerung, tastete er sich in die Mitte der Halle. Kein Laut war zu hören außer dem Wind, der draußen aufgekommen war und um die Halle heulte. Die Krieger, an denen er vorbeiging, neigten die Köpfe. Der Greis blieb stehen. Er wandte seine blinden Augen Lohan zu, der noch immer stand, aber seine Haltung war nicht mehr stolz. Er hatte die Hand vom Messer genommen und stand mit hängenden Armen da.

      „Ich habe dich sagen hören, Lohan, Sohn der Luwenda, ein Krieger, der der schwarzen Magie nicht zu widerstehen vermag, solle sterben,“ donnerte der Greis in der Reichssprache. Die Stimme passte nicht zu dem seinen Weg ertastenden uralten Mann.

      Lohan antwortete leise etwas auf elbisch.

      „Sprich auch diese Worte den Fremden verständlich, Lohan!“ grollte der Uralte.

      Lohan antwortete nicht. Schweigend stand er und starrte den Alten an. Die blinden Augäpfel des Greises rollten umher, als sähen sie Dinge, die allen im Raum verborgen blieben. Er stand mit erhobenem Haupt, wie in die Halle hinein lauschend.

      „Werden unsere Gesetze neuerdings von den jungen Kriegern ausgelegt?“ dröhnte seine Stimme durch die Halle. „Mein junger Bruder Lohan sagt, es sei Gesetz, dass ein Krieger, der im Kampf mit einem Schwarzmagier unterliege, des Todes sei. Ich sah Einverständnis bei meinen Brüdern im Rat. Habe ich Recht?“

      Ein langes Schweigen folgte auf seine Worte. Niemand regte sich. Die blinden Augen des Steinalten irrten im Raum umher.

      Endlich ergriff der Älteste, der mich befragt hatte, das Wort. „Wir freuen uns, das Gesicht unseres Bruders Lohan im Dorf zu sehen, Tamelund. Möge er leben und seinem Clan als Krieger dienen.“

      „Seit wann messen die Krieger des Waldes mit zweierlei Maß?“ donnerte der Greis. „Sprach nicht Lohan selbst sein Todesurteil?“

      Die fünf Ältesten wechselten stumme Blicke miteinander. Während der Alte, der mit mir gesprochen hatte, antwortete, blickten die anderen zu Boden.

      „Ein Gesetz gilt bei den Herren des Waldes,“ sagte der Alte ruhig. „Wie für uns, so für die Fremden, die unser Land betreten. Ist einer meiner Brüder anderer Meinung, möge er reden.“

      In der Halle herrschte absolute Stille. Lohan stand noch immer. Grimmige Wut stand ihm im Gesicht.

      Nach einer Weile sagte derselbe Alte in den Raum hinein: „Möge unser Bruder Lohan leben. Wie er, so auch der fremde Krieger, der sich Leif nennt.“

      Ich sah, wie Kats Haltung neben mir sich ein wenig entspannte. Wachsam und auf alles gefasst verfolgte ich das Geschehen in der Halle.

      Die Stimme des Uralten dröhnte: „Wer hat meinen Brüdern Kunde gegeben, dass Fremde unser Gebiet betreten würden? Haben eure Späher sie entdeckt?“

      Als niemand ihm antwortete, fuhr er fort: „War ich es nicht, der es euch gesagt hat? Habe ich euch nicht aufgefordert, sie als Gäste zu empfangen?“

      Jetzt war es Lohan, der mit mühsam kontrollierter Stimme sagte: „Du bist alt, Tamelund, unser Vater. Lange haben deine Augen das Sonnenlicht nicht gesehen. Der beschwerliche Weg von deiner Hütte zur Ratshalle ermüdet dich. Du verdienst es, dich in deiner Hütte auszuruhen und dich von den Frauen pflegen zu lassen, bis du Sehnsucht verspürst, in die Heimat zu gehen.“

      Sehr ruhig antwortete der Greis ihm: „Ich sehe wohl Dinge, die deinen Augen verborgen bleiben, weil das Sonnenlicht dich blendet, Lohan, Sohn der Luwenda. Wer war es, der dir das Leben rettete?“

      Lohan schnappte nach Luft. Mühsam brachte er hervor: „Du, Tamelund, unser Vater.“

      „Ziemt es dir da, mir zu widersprechen?“ fragte der Greis.

      Lohans Gesicht lief dunkel an.

      „Nein,“ stieß er hervor, während er sich setzte.

      Die blinden Augen des Greises irrten in die Richtung, in der wir vier saßen.

      „Die Fremden müssen bleiben und unsere Gastfreundschaft genießen.“ Die gewaltige Stimme erfüllte die Halle. „Noch habe ich nicht gesehen, was ihre Ankunft bedeutet. Bis dahin lasst sie sich frei bewegen, aber sie sollen nicht weiterreisen, bis ich klar gesehen habe, was ich sehen muss. Dann will ich euch erklären, meine Brüder, was mit ihnen geschehen soll.“

      Ich hatte den Eindruck, die blinden Augen wanderten in meine Richtung. „Du, Leif, Sohn des Brog, Krieger aus dem Dorf Brögesand, sollst frei sein und unser Gast. Doch bei Todesstrafe darfst du keine schwarze Magie auf unserem Gebiet verrichten.“

      Er richtete sich hoch auf. „Ist einer meiner Brüder anderer Meinung, dann möge er sprechen!“

      Wieder war es Lohan, der sich erhob. Auf den Gesichtern der Ältesten sah ich Unwillen.

      „So, wie du es gesagt hast, Tamelund, unser Vater,“ rief Lohan laut, „so soll es sein.“

      Die Hand am Messer drehte er sich mir zu. „Meine Brüder, hört meinen Schwur! Bei Landorlin und Vendona schwöre ich, dass dieser fremde Krieger da, der sich Leif nennt, von meiner Hand sterben wird, wenn ich sehe, dass er seine schwarze Magie ausübt!“

      Ich stand ebenfalls auf. „Ich werde eure Gesetze einhalten. Ich danke euch für eure Gastfreundschaft.“

      ***

      An der wärmenden Glut in der Siedlungsmitte reichte eine stille Frau uns Wasser in einem Tonkrug und Schalen mit heißem, seltsam schmeckendem Tee von gelblicher Farbe. Wir erhielten große Stücke gebratenen Wildbrets und eine Schale mit ungeschälten, kartoffelähnlichen Wurzelknollen, deren weißlich-grünes Inneres mehlig schmeckte und ein wenig süß. Während wir das Essen hungrig hinunterschlangen, blickte ich mich verstohlen um. Nirgendwo waren Bogenschützen zu sehen. Es machte den Eindruck, als würden wir tatsächlich nicht mehr bewacht.

      Nach und nach füllten sich die Bänke um die Feuerstelle mit Kriegern. Einige setzten sich direkt neben uns.

      Ein Krieger an meiner Seite sagte mit ernstem Gesicht: „Tamelund, unser Vater, hat euch willkommen geheißen. Was wir besitzen, ist auch euer Besitz, und wie wir unser Leben verteidigen würden, so auch das eure.“

      Ich sah in seine ernsten Augen. „Mein Leben für dich. So grüßen sich die Gefährten in meinem Heimatdorf, wenn sie - nun ja, in den Kampf ziehen.“

      „Das ist ein gutes Wort,“ meinte der Krieger. Würde klang in seiner Stimme. „Mein Leben für dich, mein Bruder!“

      Den Macht ausstrahlenden Greis, den die Krieger in der Halle Tamelund genannt hatten, konnte ich nirgendwo sehen. Er hatte als erster die Ratsversammlung verlassen, nachdem sein Schiedsspruch von den Ältesten bestätigt worden war. Der heulende Wind hatte sich schlagartig gelegt, als Tamelund im Dunkel der Nacht verschwand.

      Die Frauen bewirteten die Krieger um das Feuer mit Tee und Wildbret.

      „Sieht aus, als wenn die gesamte Arbeit in der Siedlung von den Frauen erledigt wird,“ flüsterte Kat mir mit verhaltener Verachtung zu. „Die Kerle strolchen bloß auf der Jagd durch den Wald, denken sich Mutproben aus, um ihre Federn verteilen zu können, lassen sich bedienen und palavern in ihrer Ratshalle darüber, wer wen zuletzt beleidigt hat.“

      Schräg gegenüber erkannte ich Lohan. Er saß für sich allein. Eine junge Frau reichte ihm eine Schale mit Essen. Sie blieb in seiner Nähe stehen, während er aß. Von den anderen Kriegern schien sich keiner in seine Nähe setzen zu wollen.

      Nach dem Essen nahmen einige Krieger lange Pfeifen von den Frauen entgegen. Die Frauen waren beständig um die Krieger