Thomas Hoffmann

Gorloin


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armdicke Wurzelgeflechte und an mannshohen umgestürzten Bäumen vorbei stiegen wir bergan. Auf vermodernden, von Käfern wimmelnden Stämmen wuchsen Moos und junge Fichten in den Sonnenstrahlen, die durch Lücken zwischen den Baumriesen zum Waldboden vordrangen. Lyana ging jetzt dicht vor uns. Sie ging langsam, blieb immer wieder stehen und lauschte. Wenn Sven und Kat leise ein Wort wechselten, machte sie ihnen mit ärgerlicher Miene Zeichen, still zu sein.

      Am Rand einer mit jungen, zugeschneiten Tannen bestandenen Lichtung hielt Lyana an und sah sich um. Ich stellte mich nahe zu ihr. Im Licht der späten Nachmittagssonne warfen die Tannen lange Schatten über die Lichtung.

      „Ist das der Wald, von dem du geträumt hast?“

      Lyana schaute über die Lichtung zu den gegenüber stehenden Nadelbaumriesen auf. Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Langsam nickte sie.

      „Hörst du die Musik?“ hauchte sie, „den Atem des Waldes?“

      Dieser Wald ist wie ein unfassbar großes Lebewesen, das uns beobachtet, dachte ich.

      „Nicht der Wald beobachtet uns,“ flüsterte Lyana.

      Sie deutete auf den Schnee vor unseren Füßen, wo Tierfährten eine schmale Spur ausgetreten hatten.

      „Hirsche,“ sagte Lyana leise. „Ein ganzes Rudel.“

      Sie blickte uns der Reihe nach ernst an.

      „Bleibt dicht hinter mir,“ raunte sie. „Versucht, wenn irgend möglich, kein Geräusch zu machen und nicht durch die Gegend zu trampeln wie eine Herde Büffel. Wenn ich euch ein Zeichen gebe, bleibt ihr sofort stehen und rührt euch nicht. In Ordnung?“

      „Lauert hier irgendwo Gefahr?“ fragte Kat flüsternd.

      Lyana spähte unruhig umher. „Ich weiß noch nicht.“

      Im Schatten ausladender Äste pirschten wir am Rand der Lichtung entlang hinter Lyana her. In der ringsum herrschenden Stille hatte ich den Eindruck, meine Stiefel erzeugten ohrenbetäubendes Getöse im unter dem Schnee knackenden Unterholz. Lyana schien den gleichen Eindruck zu haben, denn sie blickte sich ein paar Mal unwillig um. Vollkommen lautlos glitt sie zwischen Bäumen und schneebedecktem Bruchholz hindurch. Wir ließen die Lichtung hinter uns. Über einen vereisten Bach gelangten wir in ein Waldgebiet mit weiter auseinander stehenden Nadelbäumen. Sie hatten eine stattliche Größe, waren aber längst nicht so Furcht einflößend wie die Urwaldriesen, zwischen denen wir bereits hindurch gekommen waren. Es lag kaum Schnee und der weiche Boden war nahezu frei von Unterholz, so dass wir schneller ausschreiten konnten, ohne allzu viel Geräusch zu machen.

      Mit einem Mal ging Lyana langsamer. Sie spähte rasch zwischen den Bäumen umher. Ich sah mich um, konnte jedoch nichts erkennen. Plötzlich blieb sie abrupt stehen und gab uns ein Zeichen. Wir standen stockstill. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Lyana schien zu lauschen. Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und ging weiter. Ich wollte ihr nachgehen, aber mitten im Schritt prallte ich zurück. Kat rempelte hinter mir gegen meinen Schild.

      „Pass doch auf!“ zischte sie.

      „Still!“ flüsterte ich, ohne mich zu rühren.

      In dem Baumstamm neben mir, genau vor meinem Gesicht, zitterte ein langer, schlanker Pfeilschaft.

      ***

      „Oh Scheiße, verdammte!“ entfuhr es Kat.

      Sie riss ihren Schild nach vorn und zog Lichthüter aus dem Gürtel. Das Schwert glänzte hell auf im Halbdunkel des Waldes. Auch ich hatte die Hand am Schwert.

      Lyana war mit einem Satz bei uns. „Steck' das Schwert weg, Kat!“ schrie sie, dass es durch den Wald hallte. Ihre Stimme überschlug sich. „Um alles in der Welt, lasst die Hände von den Waffen!“

      Kat starrte sie an, als hätte Lyana der Wahnsinn gepackt. „Wir werden angegriffen!“

      „Steck' das Schwert zurück, Kat.“ Lyanas Stimme zitterte. „Bitte tu, was ich dir sage!“

      Zögernd schob Kat ihr Schwert in die Schwertschlaufe zurück. Auch ich nahm die Hand vom Schwert, obwohl ich wusste, dass Feinde in der Nähe waren. Die Klinge hatte blau geglüht, als ich mein Schwert berührt hatte. Sven stand in angespannter Haltung neben mir und spähte in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war.

      Um uns herum erwachten die Bäume zum Leben. Für einen Moment glaubte ich tatsächlich, die Stämme selbst begännen sich zu regen. Im schattigen Unterholz zeichneten sich die Umrisse schlanker, großer Gestalten ab. Sie verschmolzen so sehr mit dem dunklen Waldhintergrund, dass sie nur dann auszumachen waren, wenn sie sich bewegten.

      Lautlos traten sie unter den Bäumen hervor. Es mochte ein knappes Dutzend langgliedriger Männer in Lederkleidung sein, die uns mit großen, gespannten Bögen gegenüber traten. Ihre Pfeilspitzen zielten direkt auf unsere Köpfe. Mein Puls begann wie rasend zu hämmern. Im Bruchteil eines Augenblicks konnten sie uns alle vier töten. Und ich hatte keinen Zauber, der dagegen gewirkt hätte. Selbst eine Feuerwalze hätte die Pfeile nicht aufhalten können.

      Die Bogenschützen standen schweigend um uns im Halbkreis. Alle von ihnen überragten uns, sogar Sven, um mindestens einen Kopf. Noch immer konnte ich sie im schattigen Dämmer unten den Bäumen nur schwer erkennen. Die leichten Lederwämser, die sie trugen, hatten Lederfransen an den Ärmeln, genau wie dasjenige von Lyana. Ihre langen, hellen Haare wurden von ledernen Stirnbändern gehalten, von denen über dem rechten Ohr eine oder zwei lange Vogelfedern herabhingen. Tatsächlich waren sie ganz genau wie Lyana gekleidet, bis auf die Mokassins, die sie statt Stiefeln trugen. In ihren Gürteln steckten lange Messer.

      Lyana stand einen Schritt vor Kat, Sven und mir. Fedurin drängte sich hinter uns dicht an Kat. Er presste seine Schnauze gegen ihre Seite. Langsam hob Lyana die Hand zum Gruß.

      „Landorlin il Vendona hwen nayin,“ formulierte sie mit fester Stimme.

      Einer der Bogenschützen trat einen Schritt auf sie zu, ohne den Bogen herunterzunehmen. Aus unmittelbarer Nähe zielte er ihr mitten zwischen die Augen. Er antwortete ihr in der melodischen Sprache, von der ich wusste, dass es die Sprache der Elben, der Herren des Waldes war, aber seine Stimme klang hart. Lyana erwiderte ihm ruhig, doch er antwortete nur knapp mit kalter Stimme. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Lyana kniete sich vor ihn hin. Ihre Stimme begann zu zittern. Entsetzt verfolgte ich den Wortwechsel. Und mir fiel nichts ein, was ich hätte tun können. Die Pfeilspitzen waren nach wie vor auf uns gerichtet. Eine unbedachte Bewegung von einem von uns, und wir alle wären auf der Stelle tot.

      Eine feste, helle Stimme ertönte hinter den Bogenschützen. Zwischen den großen Männern kam ein Junge mit glatten, hellbraunen Haaren hervor, die ihm sanft über die Schultern fielen. Er war gekleidet wie die Bogenschützen, aber zierlich schlank und noch einen halben Kopf kleiner als ich. Er hatte seinen Bogen über die Schulter gehängt und die schmale Hand am Messer. Ich korrigierte mich sofort: es war eine junge Frau. In ihrem Stirnband hingen drei große Federn.

      Mit langen Schritten ging sie auf Lyana zu und sprach sie an. Der Jäger, der vorher zu Lyana gesprochen hatte, trat einen Schritt zurück und senkte den Bogen. Er sah verärgert aus. Das Mädchen und Lyana wechselten ein paar Worte, dann griff die junge Frau Lyana bei den Schultern und Lyana stand auf. Die beiden sahen einander in die Augen. Das Mädchen nahm das Amulett in die Hand, das Lyana um den Hals hing. Sie zeigte es den Männern hinter ihr und sagte etwas dazu. Ihre Stimme klang entschlossen. Dann deutete sie auf uns. Lyana erklärte leise mehrere Sätze in der Elbensprache. Die Schützen senkten ihre Bögen. Ich wollte gerade aufatmen, als mir erneut der Schreck in die Knochen fuhr. Vier gespannte Bögen blieben auf meine Augen gerichtet.

      „Lasst sie selber reden, wenn sie verständige Wesen sind und nicht viehisch wie Tiere!“

      Einer der Bogenschützen hatte es in der Reichssprache gerufen, ein großer Mann mit breiten Schultern und starken Armmuskeln, die sich unter seinem dünnen Lederwams abzeichneten. Er schob seinen Pfeil in den Köcher und hängte den Bogen über die Schulter. Mit ein paar Schritten kam er auf uns zu, die rechte