Ich meine, das hier ist mein Zuhause, oder?« Er starrte sie gehetzt an. »Ich habe kein anderes …« Doch tief im Inneren wusste Avriel, dass sie recht hatte und er am besten sofort seine Sachen packen und verschwinden sollte.
»Valentine, ich wollte bei deinem Vater um deine Hand anhalten.« Er errötete heftig.
»Mein Vater würde mich keinem Waisenkind geben. Erst recht keinem … Du weißt schon.« Valentine ballte die Hände zu Fäusten, sodass sich die Fingernägel ins Fleisch gruben.
»Wenn wir das siebzehnte Lebensjahr erreichen, erhalten wir eine Geldsumme, die von unseren Schulnoten abhängt. Valentine, du kennst meine Zeugnisse und kannst dir ausrechnen, dass das nicht wenig sein wird!«
»Avi, wenn … wenn du darauf bestehst, dann komm doch heute Abend zu mir. Ich bin allein zu Hause, da können wir über alles reden, ohne …« Sie sah sich flüchtig auf dem Schulhof um. Ihre Stimme zitterte.
»Gut. Ich werde kommen.« Er drehte sich weg und ging schnell ans andere Ende des Schulhofes, konnte es nicht ertragen, weiter in ihrer Nähe zu sein.
Wenn er Gordon City verlassen musste, dann hatte er keine Wahl. Er musste sich von ihr verabschieden. Für immer.
Nach der Schule stand Avriel, sauber gekämmt und mit einem Strauß ihrer Lieblingsblumen – pinke Lilien – im Arm, vor Valentines Haus. Sein Herz schlug ihm schon den ganzen Tag bis zum Hals. Er drückte auf die Klingel und kurz darauf glitt die Schiebetür geräuschlos beiseite. Auf einmal war er hellwach und trotz der Dunkelheit im Haus sah er deutlich die Treppen, die zum Zimmer seiner besten Freundin führten. Er rannte hoch und fand sich mit klopfendem Herzen vor ihrer Zimmertür wieder. Sollte er hineingehen? Kurz lauschte er, doch kein Laut war hinter der Tür zu hören. Er drückte vorsichtig die Klinke nach unten.
In ihrem weiß getünchten Zimmer saß Valentine auf einem Stuhl an einem weiß lackierten Tisch. Ihre Schuluniform war mittlerweile zerknittert, und im Spiegel erkannte er, dass sie den Kopf auf die Hände gelegt hatte und schlief.
Avriel trat zu ihr und sah zu, wie sich ein paar Haare im Rhythmus ihres regelmäßigen Atems sachte vor ihrem Gesicht bewegten. Sie wirkte in diesem Moment noch zerbrechlicher als auf dem Schulhof – ahnungslos und leicht verwundbar, ohne Schutz. Die geschlossenen Lider waren gerötet, aufgequollen und zitterten, als würden Albträume sie plagen.
Doch was ihn besonders anzog, waren ihre vom Weinen geschwollenen, leicht geöffneten Lippen. Und ohne zu wissen, was er da tat, küsste er ihren fiebrig heißen Mund.
Valentine erwachte und schlug ihm ins Gesicht. »Wie kannst du nur?« Sie stieß ihn von sich.
Sein Kopf prallte schmerzhaft gegen ein niedriges Regal. Ein metallischer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus und machte ihn rasend. Gleichzeitig hatte Valentine nie reizender ausgesehen als mit diesem lebendigen, wütenden Gesichtsausdruck.
»Es tut mir leid.« Das war gelogen – der Kuss hatte ihm durchaus gefallen, ihre Lippen waren so schön weich …
»Du Heuchler! Ich kann nicht glauben, dass du einfach über mich herfällst!« Valentine schlug ihn erneut.
Plötzlich sah er rot – oder eher hell, die Farbe ihrer Haut …
»Avi!« Der Ruf ging in einen lang gezogenen Schrei über, der Avriel nicht mehr erreichte.
Wie ein Raubtier packte er sie und versenkte seine Zähne in ihrem Arm, füllte seinen Mund mit ihrem Geschmack, löschte das Feuer in seinem Herzen mit der Kühle ihrer seidenweichen Haut.
Ihren Schmerzensschrei hörte er nur dumpf, wie durch einen Schleier. Ihre lächerlich kleine, schwache Faust schlug erfolglos gegen sein Gesicht, seine Brust, seinen Hals.
Er packte ihr Handgelenk und drückte zu, zerrte daran, bis dieses lästige, zuckende Ding ihn nicht mehr irritierte.
Versank immer mehr in einem rot geräderten Wahn. Biss erneut zu.
Bis sie sich nicht mehr wehrte und zu Boden sank.
Doch mit der Ruhe kam auch der Horror. Er blickte auf Valentine hinab und spürte, wie seine Hände zitterten. Als würden sie nicht ihm gehören. Aus den Wunden sickerte Blut, aber es lockte ihn nicht, im Gegenteil. Der Anblick verursachte ihm ein Gefühl des Ekels.
Mit dem Pflichtbewusstsein eines Schuljungen drückte er auf den in jedem Zimmer installierten Knopf, der eine Ambulanz herbeirufen würde – er war sich sicher, dass sie Valentine nicht helfen konnte.
3. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
Riú saß vor seinem in den Schreibtisch eingebetteten Arbeitscomputer im Oval Office und war ganz aufgekratzt. Eigentlich lebte er in ständiger Furcht, hatte keine Zeit für Ruhepausen.
Er wusste genau, dass er sich objektiv betrachtet am sichersten Ort der Erde befand. Die neuesten Sicherheitsvorkehrungen hatte er schließlich selbst einbauen lassen und damit das Oval Office zu einer uneinnehmbaren Festung gemacht. Selbst wenn jemand es gegen seinen Willen hineinschaffte, hatte er immer noch genug Männer vom Secret Service vor der Tür, um eine kleine Armee aufzuhalten.
Und dann dachte er daran, dass sein Vater eigentlich an seiner Stelle sitzen sollte, und fühlte sich mickrig. Wer war er im Vergleich zu Raoul Gordon? Ein kleiner Junge, auf dessen Rücken die ganze Welt lag. Und irgendwann würde er unter ihrem Gewicht zusammenbrechen.
Dabei war nicht gerade hilfreich, dass sich nach dem Tod seines Vaters sämtliche KI-Assistenten einfach abgeschaltet hatten und Riú somit eine Welt zusammenhalten musste, die technisch um fünfzig, wenn nicht gar hundert Jahre in die Vergangenheit katapultiert worden war.
Nun war jedoch die aufreibende Bildschirmarbeit beendet, er hatte nichts zu tun und genau das machte ihn nervös, sodass er sich permanent davon abhalten musste, auf dem Touchscreen herumzutrommeln und damit unfreiwillig Befehle auszulösen.
Er könnte das Gerät ausschalten, das Oval Office verlassen und sich ausruhen. Einige Stunden gar nichts tun und hoffen, dass er nicht auf Schlaftabletten zurückgreifen musste, um die dringend notwendige Ruhe zu bekommen.
Und wenn genau in diesem Moment ein Attentäter dabei wäre, seinen perfiden Plan in die Tat umzusetzen?
Nein. Er musste bleiben. Schlafen konnte er auch später noch.
Schon seit Monaten hielten sich diese verdammten Mutanten