saß.
Im Schutz der Tanne schlich er zum Haus und umrundete es, sprang über den Zaun und schnappte sich sein Rad. Nichts wie weg!
5. Allegra – Atlanta – 07.07.2145
Sehnsüchtig blickte Allegra nach draußen, auf die Wiese vor dem Waisenhaus. Jetzt, da es langsam Abend wurde, spürte sie, wie sie wieder zu den Lebenden zurückkehrte.
Das Atmen fiel ihr nicht mehr so schwer wie in der Gluthitze des Tages, ihre Gedanken waren nicht mehr so vernebelt. Wenn sie nicht wüsste, dass man sie in wenigen Stunden ins Bett schicken würde, hätte sie gute Laune. So aber schob sie ihr Abendessen lustlos auf ihrem Teller hin und her.
»Was wird das, wenn es fertig ist?« Miss Brown baute sich vor ihr auf.
Allegra blickte sie unschuldig an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Dein Essen wird mit Steuergeldern bezahlt. Wenn du es nicht aufisst, dann wandert es in den Müll. Ist es das, was du willst? Dass unsere Steuergelder in den Müll wandern?«
»Natürlich nicht, Miss Brown.« Was war das für eine dumme Frage?
»Dann iss auf.«
»Natürlich, Miss Brown.« Allegra rollte mit den Augen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Geld besonders gut schmeckte.
Abstrakte Dinge hatten ohnehin keinen Geschmack.
6. Riú Gordon – Washington D.C. – 07.07.2145
Es war immer wieder überraschend, wie gut sich der anerzogene Anstand der Leute gegen sie selbst nutzen ließ. Riú kannte keinen einzigen Fall eines Mutantenangriffs durch Jugendliche, bei dem sich der Schuldige nicht selbst ans Messer lieferte.
Es war lächerlich einfach. Sobald sie begriffen, was sie getan hatten, drückten sie alle auf den Ambulanzknopf oder riefen über ihren UniCom Hilfe. Ohne zu wissen, dass von diesem Augenblick an alles mitgeschnitten wurde, was um sie herum geschah.
So auch in diesem Fall.
Riú starrte so angestrengt auf die Aufnahmen, dass seine Augen zu tränen begannen. Er blinzelte einige Male heftig und rieb sich mit dem Handrücken übers Gesicht.
Jetzt nur nicht im entscheidenden Moment müde werden.
Nervös blickte er auf die Kamera-Streams, von denen der junge Mann auf einmal verschwunden schien. Wider besseres Wissen war er für einen Augenblick geneigt, an den Blödsinn zu glauben, dass Mutanten sich unsichtbar machen konnten. Doch sofort schüttelte er den Kopf. Als er damals Fabricia mit den Vorurteilen gegenüber Mutanten konfrontierte, hatte sie ihn laut und schallend ausgelacht, weil er an so einen Unfug glaubte. Er musste die Ursache in den Aufnahmen suchen.
Jetzt bereute er, seinen Assistenten weggeschickt zu haben. So musste er selbst mit den Dateien hantieren, statt die Show zu genießen.
Riú speicherte mit einigen geübten Handbewegungen die Aufnahmen aus dem Haus der Springfields und öffnete sie. Mit einer leichten Berührung seines Daumens spielte er die Dateien in Zeitlupe ab, und voilà …
Das Fenster im Zimmer des Mädchens stand offen und ein trotz modernster Kameras leicht unscharfes Bild zeigte ihm einen Mutanten, der genau 00:03:34 nach Aufnahmebeginn auf das Fensterbrett sprang und unmittelbar danach verschwand.
Aber wohin war der Mutant geflohen?
Sofort wollte er die Bilder der Außenkameras abrufen, um genau das herauszufinden, doch ihn empfing eine knallrote, blinkende Fehlermeldung im Kontrollpanel. Die Fehlerbeschreibung offenbarte ihm, dass schon letzte Woche jemand den Außenkameras von Gordon City den Saft abgedreht hatte – und anscheinend hatte sich immer noch niemand die Mühe gemacht, den Schaden zu reparieren, obwohl er höchstpersönlich die unmissverständliche Anweisunge gegeben hatte, Störungen an Überwachungsgeräten umgehend zu beheben!
Er tippte gegen die Smartwall. »Welchem County gehört Gordon City an?«
»Guten Abend. Gordon City gehört zu DeKalb County. Kann ich weiter behilflich sein?«
Die KI hatte eine angenehme Stimme, aber ihm wäre es lieber, sie hätte nichts gesagt.
»Fabricia, rufe den County Executive an.«
»Ich rufe den County Executive von DeKalb County an. Richtig?«
»Richtig.« Er stützte genervt das Gesicht in die Hände. KI stand für künstliche Intelligenz, aber das Programm müsste in dem Fall KD heißen. Künstliche Dummheit. Nicht zu vergleichen mit den Assistenten aus seiner Studienzeit.
Immerhin war das Programm schlau genug, sich durchzuwählen, ohne ihn nach weiteren Details zu fragen. Nachdem niemand ans Bürotelefon ging, rief es direkt beim County Executive zu Hause an.
»Mr Green?« Riú schielte auf das Profil, das Fabricia, wie er seine KI in einem sentimentalen Anfall genannt hatte, für ihn neben den Anrufinformationen einblendete.
»Wer ruft an? Es ist Feierabend. Wenn das ein Streich ist …«
»Riú Gordon. Aus dem Weißen Haus.«
»Entschuldigen Sie bitte, Sir, Mr President, ich …«
»Mr Green, wieso sind die Außenkameras an den Gebäuden in Gordon City kaputt und das seit vier Wochen?«
»Seit vier … Das ist nicht möglich. Die Außenkameras in Gordon City sind längst repariert.«
»Soll meine Office Managerin entsprechende Beweise zusammenstellen und Ihnen zukommen lassen, Mr Green?« Er lächelte.
»Ich … werde das überprüfen. Soll ich zurückrufen, Mr President?«
»Legen Sie nicht auf. Ich warte.«
»Ich werde mich beeilen.«
Riú hörte den Mann hektisch mit Papieren rascheln, Schubladen zuknallen und dann abgehackt tippen. Vermutlich einhändig.
Stille.
»Mr President?«
»Ich höre.«
»Ich weiß nicht, wie das passieren konnte, aber das Geld für die Reparatur der Kameras … Es ist mir sehr unangenehm.«
»Was?«
»Laut meinen Unterlagen sollten sie längst repariert worden sein. Aber offensichtlich ist das nicht geschehen. Ich weiß nicht, wohin die Staatsgelder dafür