Atlanta zu kommen.
14. Ariane Faw – Atlanta – 07.07.2145
Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, wenigstens an diesem Abend noch vor der Ausgangssperre zu erwachen. Doch wie immer, wenn der Wecker ihres UniComs klingelte, stellte sie ihn ruhig, drehte sich um und kuschelte sich noch für ein, zwei Stündchen in die Kissen.
Erst weit nach Sonnenuntergang schälte sie sich aus der Decke und tappte ins Badezimmer.
Ariane begann ihren Abend damit, sich die kurz geschnittenen Locken zu kämmen und zu schauen, ob sich graue Haare ins Blond geschlichen hatten.
Negativ.
Beruhigt wandte sie sich dann der sorgfältigen Wahl ihrer Kleidung zu: Minirock, Hosenträger, eine weiße Bluse.
Wie jeden Abend weckte die Garderobe Erinnerungen an die glückliche Zeit, als sie Geschichtsstudentin gewesen war – damals waren Mutanten und Menschen noch freundlich zueinander gewesen. Es war gleichgültig, zu welcher der beiden Menschenrassen man gehörte, solange man nur Köpfchen besaß und an der Abendfakultät von Washington alle Prüfungen bestand. Angriffe – laut Riú Gordon der Grund für die Verfolgungen – fanden praktisch nicht statt. Vielleicht alle zwei, drei Jahre einer. Wenn überhaupt.
Kurz bevor sie die Wohnung verließ, betrachtete sie ihr Lieblingsfoto.
Im Mondlicht hatten sie damals, vor neunzehn Jahren, ein Foto gemacht. Fabricias strenger Zopf schlang sich wie zufällig um Riús Hals, er hielt sie fest an sich gedrückt, und Ariane selbst stand hinter ihnen auf einer Bank und lachte.
Warum war er nur so ein Monster geworden?
Ariane schloss die Tür auf und ging los zum Zigarettenautomaten. Sie brachte es einfach nicht fertig, ihren Bedarf realistisch einzuschätzen und die Päckchen auf Vorrat zu kaufen. Außerdem wurde sie noch nie erwischt, obwohl sie fast jeden Abend draußen war. Dabei ließ sie die Nacht Revue passieren, in der eine verweinte Fabricia bei ihr vor der Tür gestanden und um Einlass gebeten hatte.
Damals hatte Fabricia mit Riú Schluss gemacht, weil sie von ihm schwanger war und nicht wollte, dass er ihretwegen Probleme mit seinem Vater bekommen würde. »Hast du es ihm gesagt?«, fragte Ariane sofort, doch ihre beste Freundin hatte verneint.
Wenige Wochen später trat Riú in die Antimutanten-Partei, kurz: AMP, ein und Ariane brach jeden Kontakt zu ihm ab. Sie konnte nicht länger mit jemandem befreundet sein, der aktiv an ihrer Vernichtung und der Ausrottung ihrer Mitmutanten arbeitete.
Sie selber war kurz darauf in die Oppositionspartei MP eingetreten und bereute es nicht – sie wollte ihre Würde bewahren und mit allen Mitteln dagegen kämpfen, dass den Mutanten im Laufe der Jahre sämtliche Grundrechte entzogen wurden.
Auch wenn das Schicksal sie und ihren einst besten Freund auf diese Weise zu Feinden machte.
Ein angenehmer Sommerwind hüllte Ariane ein und nahm alles Trübe ihrer Gedanken mit sich fort, als sie ihre Kreditkarte zog und trotz Ausgangssperre in aller Ruhe ihre Zigaretten bezahlte. Auf ihrem UniCom würde sie dafür eine Mahnung erhalten, aber das war ihr egal. Sie würde antippen, dass sie sich ihres Unrechts bewusst war, und weitermachen. Glücklicherweise meldeten die Banken das noch nicht an die Behörden.
Dabei überflog sie aus reiner Gewohnheit die Anzeigen auf der Werbesäule neben dem Automaten. Der neueste Kinofilm, das modernste bionische Exoskelett, ein Mutantenschreck auf Ultraschallbasis im Sonderangebot, Kurznachrichten …
Dann sah sie die Fahndungsanzeige.
»Nanu?« Sofort sprang ihr die Ähnlichkeit ins Auge: Sieht der Typ auf dem Steckbrief nicht fast so aus wie Riú als Jugendlicher? Wie konnte das bloß sein?
15. Allegra – unterwegs – 08.07.2145
Sie atmete tief durch. Eigentlich war das Ganze wie ein Augmented Reality Spiel, und ihre Quest bestand darin, zunächst lebend und ungesehen die Stadt zu verlassen.
Nur war das hier kein Spiel.
Die Riemen des Rucksacks drückten ihr in die Schultern, ihre Füße schmerzten vom Laufen, sie versteckte sich im Schatten und durfte sich nicht bewegen, sobald sich eine Patrouille näherte.
Die schwer bewaffneten Einheiten waren die Einzigen, die während der Sperrstunde noch unterwegs sein durften. Sie und die vollautomatischen Lastwagen der entsprechenden Gewichtsklasse.
Ansonsten waren die Städte nachts nahezu ausgestorben.
Allegra wich beiden aus. Die selbstfahrenden Laster sollten zwar keine Gefahr darstellen, aber wer wusste, wohin die Bilder ihrer Frontscheibenkameras übertragen wurden. Kein überflüssiges Risiko eingehen, das war nicht nur in Videospielen die klügere Wahl.
Sie folgte den Spuren der Magnetbahnen von Haltestelle zu Haltestelle.
Miss Tan würde sie nicht vermisst melden. Zumindest nicht, solange es sich vermeiden ließ. Sobald im Morgengrauen die Ausgangssperre enden würde, konnte Allegra sich in einen beliebigen Zug in Richtung Louisiana setzen, ohne aufzufallen. Aber selbst im Sommer musste sie bis dahin noch einige Stunden durchhalten.
Die Stille der Stadt lastete auf ihr und sie musste gegen die Angst ankämpfen, ohne singen oder pfeifen zu dürfen. Lautlos, mit überreizten Sinnen, auf jedes Geräusch lauernd, das einen Lastwagen oder eine Patrouille ankündigen konnte. Allegra führte es sich immer wieder vor Augen: Sie suchten einen Jungen mit blondem Haar. Sie würden vor einem Mädchen mit schwarzem Haar trotzdem nicht haltmachen.
Wenn sie erwischt wurde, konnte sie sich genauso gut gleich umbringen, nur fehlte ihr die Fantasie für eine sinnvolle Methode, die mit nichts als einem Rucksack voller Essen und einem UniCom durchführbar wäre.
Ein leises Sirren zerschnitt die Stille und hallte in den Häuserschluchten wider.
Allegra blickte auf.
Eine Drohne.
Sie starrte das Fluggerät für den Bruchteil einer Sekunde an – dann rannte sie los.
Das Sirren spann sie in ein Netz aus Geräuschen ein, vor ihr, hinter ihr, über ihr, überall, kein Entrinnen, wenn es sie erst erreichte …
Die Drohne hatte Waffen. Einen Taser, wenn sie sich richtig erinnerte. Und »Brüder«.