Fabricia hatte nie gewusst, dass Ariane ihr den Freund neidete, sie hatte nicht einmal geahnt, wie gerne Ariane an ihrer Stelle gewesen wäre, und jetzt stand der Beweis vor ihr, dass Riú und ihre beste Freundin … nein. Nicht daran denken, die Bilder wollte sie ganz gewiss nicht in ihrem Kopf haben.
Hastig tippte sie eine Nachricht an Fabricia und kehrte dann erst zu Avriel zurück.
Als sie die Küche erneut betrat, zuckte Avriel nicht einmal mit der Wimper. Jetzt allerdings schien er aus seiner Lethargie zumindest soweit erwacht zu sein, dass er das für ihn hoffnungslos veraltete Gerät mit halboffenem Mund angaffte. »Was ist das denn?«
Ariane legte das Pad auf den Küchentisch und aktivierte es, indem sie zweimal schnell auf den Bildschirm tippte. »Schreibt ihr in der Schule nicht auch auf solchen Dingern? Nur müssten eure Modelle ein wenig neuer sein.« Sie drehte das Gerät um. »Siehst du? Das hält fast nur noch mit Panzerband und Spucke zusammen. Es wurde von mir gehackt und ist Teil eines Nexus-Netzes, für die ganzen modernen Überwachungsprogramme hat es nicht genug Saft und die alten habe ich runtergeschmissen. Die einzige Möglichkeit, unbeschadet auf m-mail.com zuzugreifen.«
»Äh, Mail-was?«
»Der Maildienst von und für Mutanten in aller Welt, samt Social Network außerhalb der staatlichen Kontrolle.«
»Was sind diese Social-Dinger?«
Ah, Jugendliche. Vermutlich hatte er kein Wort von dem verstanden, was sie erklärt hatte. »Ein Social Network ist ein Ort, an dem man Bilder, Videos und noch mehr Nachrichten austauschen kann. Auch wenn das heute nicht mehr aktuell ist – was bringt man euch in der Schule bei?«
»Geschichte, Mathe, Rassenkunde …«
Sie seufzte. »Schon gut. Also. Dieses Pad ist jedenfalls gegen staatliche Überwachung geschützt und kann damit für den Widerstand benutzt werden.«
»Wie soll das gehen?«
Er schloss die Augen und drückte die Finger auf die Lider.
Ariane verstand, dass sie sich langsam auf das Sehen im Dunkeln spezialisierten. »Nexus-Netz, sagte ich doch. Schwierig auf die Schnelle zu erklären, es kommt jedenfalls niemand rein, der nichts davon weiß und nicht eingeladen ist.«
»Warum erzählst du mir das alles? Das ganze verbotene Zeug?« Seine Stimme hatte jetzt einen dumpf-gequälten Klang.
»Weil du ohnehin gesucht wirst und es auf einen Gesetzesverstoß mehr oder weniger nicht ankommt?«
Er seufzte. Dann hob er seine Teetasse an die Lippen und trank ihren Inhalt in einem langen Schluck leer.
»Aber ich glaube nicht«, fuhr Ariane fort, »dass du hergekommen bist, um Tee zu trinken.«
»Nein. Es ist komplizierter.«
20. Avriel Adamski – Atlanta – 08.07.2145
Er vertraute Ariane. Etwas in ihrem Gesicht schien ihm auf eine instinktive Art vertraut, auch wenn er es nicht benennen konnte.
»Warum bist du also hier?« Sie nippte an ihrem Tee und lächelte ihn freundlich an.
»Warum hast du mich ins Waisenhaus gebracht?«
»Woher weißt du das?« Sie hob beide Augenbrauen.
»Ich habe meine Akte gesehen.«
»Es war der einzige Weg, um dich zu retten. Ich habe behauptet, dass du vor meine Türschwelle gelegt wurdest. Es ist nicht möglich, Babys auf das Mutantengen zu testen. Es kann erst bei Teenagern nachgewiesen werden. Wenn man also nicht weiß, wer deine Eltern sind, dann giltst du automatisch als Mensch.«
Er schluckte immer wieder, aber der Kloß in seinem Hals blieb und drückte ihm die Luft ab. Sie wusste, wer seine Eltern waren. Sie wusste, wer er war.
Sie wusste es.
»Alles in Ordnung? Du bist so still.«
»Es wäre besser gewesen, wenn ich gestorben wäre.«
Sie streckte die Hand aus, über den Tisch hinweg, strich über seinen Ärmel. »Nein. Wäre es nicht.«
»Doch, wäre es.« Mit einem Mal verspürte er das dringende Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden. »Ich weiß erst seit gestern, dass du existierst. Aber andere Hinweise zu meiner Herkunft habe ich nicht.«
Er fühlte sich seltsam, als würde sein Gehirn in einer viel zu engen, mit Watte gefüllten Kiste liegen, als würden seine Gedanken nicht funktionieren, wie er wollte. Avriel fühlte sich hilflos, wollte unbedingt sprechen und konnte nicht, streckte Ariane stattdessen einfach seine ID entgegen.
Ariane las die Daten laut vor: »Avriel Adamski, geboren am 8. Juli 2128 in Atlanta, Verwaltungseinheit Georgia, Großraum Nordamerika, gültig bis zum 21. Januar 2148, wohnhaft in Gordon City, 1.70m groß, blond, grüne Augen, Rasse homo sapiens sapiens.«
Seiner Meinung nach sah er auf dem biometrischen Foto nicht wirklich aus wie er selbst, aber wer tat das schon? Dennoch erkannten ihn die Kameras in der Schule, jedenfalls begrüßte ihn immer eine Roboterstimme am Eingang.
»In einem Punkt hat sich der Aussteller geirrt. Du bist eigentlich ein homo sapiens mutans, wie die Eugeniker unsere Rasse bezeichnen. Ich finde das, wenn ich ehrlich bin, reichlich widerlich, klingt mehr nach Zombie-Apokalypse als nach Wesen, die sich von Menschen kaum unterscheiden.«
Avriel nickte nur. Seit er wusste, was er wirklich war, hatte er sich schmutzig gefühlt, ohne einen Grund dafür angeben zu können. Vielleicht fand Avriel ihre Aussage deswegen so tröstlich, dass er sie spontan umarmte.
Sie wurde leicht rot und schob ihn sanft von sich. Ihre Augen wurden feucht, als ob er etwas Trauriges getan hätte, dabei war es nur eine Umarmung gewesen. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Denn im nächsten Moment war ihr Gesicht wieder völlig gefasst.
»Hast du keinen Verdacht geschöpft? Ich meine, man spürt überdeutlich, dass man mutiert.«
»Doch, schon. Ich wollte es aber ignorieren. Vor einigen Wochen habe ich halt Probleme mit der Gesundheit bekommen. Ich konnte auf einmal schlecht atmen, wenn die Luft sehr trocken war. Und wenn die Sonne im Sommer herunterknallte, war ich wie blind. Dann konnte ich immer schlechter schlafen und war aus diesem Grund in der Schule müde. Meine Freundin Valentine …« Er schluckte. Es tat weh, an Valentine zu denken, raubte ihm fast wieder die Sprache.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie