Christina Kreuzer

Ammerseeherzen


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      Boschi war sprachlos und legte seine Füße auf den Schreibtisch. Er dachte an die vielen Mordfälle, die er inzwischen gelöst hatte. Sein fehlender kleiner Finger juckte höllisch. Er erinnerte sich sofort an Angus Streitberger, der unschuldige Menschen geköpft hatte und die Schädel für irgendwelche mystische, okkulte Zeremonien zur Schau gestellt hatte. Dieser Angus Streitberger war schuld an seiner Verstümmelung. Damals hatte Boschi seine Kollegin Jette aus seinen Fängen befreit und dabei hatte ihm der Irre drei Finger an der linken Hand abgehackt. Zwei Finger konnten ihm die Ärzte Gott sei Dank wieder annähen. Oder an die mörderische Ärztin, die arme Menschen aus Rumänien mit leeren Versprechen nach Deutschland lockte, umbrachte und ihre Organe an Empfänger mit dickem Geldbeutel transplantierte, die auf der Warteliste ganz unten standen. Beide Fälle, die damals die Bevölkerung im Landkreis Starnberg in Angst und Schrecken versetzt hatten, konnte er mit Hilfe seiner Kollegen aufklären. Jetzt ein grausamer Mörder, der Menschenherzen verspeiste. Welcher Irre trieb nun sein Unwesen im Landkreis Starnberg?

      „Boschi, vergiss nicht Oberstaatsanwalt Höglmeier anzurufen!“, unterbrach Jette die Stille im Büro.

      Boschis fehlender Finger juckte immer noch. Er rieb sich die Amputationsstelle. „Frank, machen Sie das für mich? Wie Sie wissen habe ich leider keinen besonders guten Draht zum Oberstaatsanwalt. Außerdem stehen wir ganz am Anfang und können ihm bis jetzt nur dürftige Ermittlungsergebnisse mitteilen. Sie, als zukünftiger Schwiegersohn, sind doch prädestiniert für solche Aufgaben, oder?“

      „Gerne Chef!“ Frank freute sich, konnte er doch seine Person und seine Recherchen beim Schwiegervater in spe besonders in den Vordergrund stellen. Er wollte schließlich so schnell wie möglich Karriere im Polizeidienst machen und nicht wie Hauptkommissar Dippold auf einem kleinen Kommissariat auf dem Land versauern. Das ihn damit die Kollegen als Arschkriecher bezeichneten war Frank egal. Er machte Dienst nach Vorschrift und versuchte nirgends anzuecken. „Ich sag, sie schicken ihm einen schriftlichen Bericht bis zum Abend!“

      „Danke Frank!“, bedankte sich Boschi scheinheilig und dachte gleichzeitig an den fränkischen Ausdruck für einen Wichtigtuer, „So a Bimberla!“ Er konnte Kommissar Maisetschläger mit seiner Schleimerei einfach nicht leiden. „Jette und ich schauen uns inzwischen in der Nähe des Segelclubs in Herrsching um, wo das Boot vor Anker gelegen hatte. Komm Jette!“

      *

      Albert Ott von der Schutzgemeinschaft Ammersee freute sich auf die monatliche Wasservogelzählung. Sein Auto parkte er wie immer auf dem kleinen Parkplatz an der Rott Brücke. Ausgerüstet mit Fernglas, Blatthalter und Zählgerät machte er sich auf den Weg zur kleinen Blockhütte des Vereins am Rand des Naturschutzgebietes. Dort schlüpfte er in eine wasserdichte Wathose, die im Sumpf- und Verlandungsmoor der Schilfwiesen die einzige Möglichkeit war, einigermaßen trocken zu bleiben. Auf dem Weg zur Nordseite der Schwedeninsel überprüfte Albert Ott die Nisthilfen, Nistkästen und Brutwände für die seltenen Eisvögel, Sperlingskäuze und Trauerschnäpper. Sogar ein Fischadlerpärchen hatte inzwischen ein Nest auf einem Baum der Insel angenommen und zog zwei Junge auf.

      Angus Streitberger, der gerade im Schlick des Ufers nach weiteren Goldbarren suchte, bemerkte den in den Schilfwiesen umherstreifenden Ornithologen gerade noch rechtzeitig. Schnell versteckte er sich in einem jungen Birkenbestand, der von hohen Binsen und Gräsern umgeben war. Angus kannte den Mann. Er hatte schon einmal seine Ruhe gestört.

      Albert Ott war überrascht von der diesjährigen Vogelvielfalt auf der Schwedeninsel. Er wurde heute nicht fertig und musste morgen noch einmal kommen, um die Vogelzählung abzuschließen. Auf dem Rückweg wollte er noch an den Resten der ehemaligen Gaststätte vorbeigehen, die bereits in den 90er-Jahren abgerissen wurde. Schon auf dem Weg dorthin fand er Müll, Unrat und stinkende Hinterlassenschaften von Touristen, die sich einfach nicht an das Sperrgebiet hielten und die seltenen Vögel störten. Verärgert sah er auf seine Armbanduhr. „Was? Schon so spät! Und so viel Abfall! Ich muss morgen unbedingt mehr Müllsäcke mitnehmen.“ Kopfschüttelnd und leise vor sich hin fluchend stapfte der Ornithologe zurück zur Vereinshütte.

      Angus Streitberger hielt sich die ganze Zeit versteckt und beobachtete jeden Schritt des Vogelkundlers. Er wartete in seinem Versteck geduldig bis der unliebsame Besucher endlich abzog. Nachdenklich ging er zurück zu der Stelle, an der er den Goldbarren gefunden hatte. Die Gier nach Gold und Reichtum zermarterte sein krankes Gehirn.

      *

      Jette und Boschi befragten einige anwesenden Mitglieder und den Hausmeister des Segelclubs in Herrsching. Natürlich konnte sich nach so langer Zeit niemand an etwas Ungewöhnliches erinnern. Boschi ließ sich eine Liste aller Vereinsmitglieder ausdrucken, die Polizeiobermeister Meier und Müller in den nächsten Tagen alle befragen mussten.

      „Boschi, weißt du noch, was du im Oktober letzten Jahres gemacht hast?“, fragte ihn Jette. „Ich nicht!“

      „Ich auch nicht! War eine blöde Idee. “ Boschi zündete sich eine Zigarette an, setzte sich auf eine Bank und blickte über den Ammersee. Der Raddampfer „Herrsching“ pflügte einige hundert Meter vor ihnen durch den See. „Jette, wir leben im Paradies!“

      „Boschi, du träumst! Im Paradies laufen keine Mörder rum!“ Jette setzte sich direkt neben ihm und überlegte, ob vielleicht ein Suchhund die Duftspur des Opfers verfolgen könnte. In ihrem letzten Fall hatte der Hund, ein sogenannter „Mantrailer“, nach mehreren Tagen noch eine Spur finden können. Aber auch noch nach Monaten? Die Witterung hatte sicher alle Spuren beseitigt.

      „Ach geh zu! Der Täter ist nicht nur ein Mörder! Er muss auch verrückt, völlig plemplem sein. Verspeist in aller Ruhe das Herz eines Menschen.“ Das Handy unterbrach Boschi.

      Dr. Wolfgang Reiter, der Leiter der Spurensicherung meldete sich. „Hallo Herr Hauptkommissar, ich habe sensationelle Neuigkeiten. Sitzen Sie gut?“

      Boschi grinste und stellte das Telefon für Jette auf Lautsprecher. „Haben Sie übersinnliche Fähigkeiten Dr. Reiter. Ja, ich sitze mit Kommissarin Jettenbach gerade an der Herrschinger Bucht auf einer Bank, genieße die Sonne und mache Mittagspause.“

      „Leider ist jetzt Schluss mit Genießen. Ich konnte am Fundort der Leiche von Benjamin Sattler und auf dem Deck der Yacht verschiedene Fingerabdrücke und DNA-Spuren sicherstellen. Jede Menge Hautschuppen und Haare. Außerdem befanden sich an der Bratpfanne registrierte Fingerprints. Zuerst dachte ich an einen Fehler in der Datenbank. Zur Bestätigung habe ich eine an der Gabel gefundene DNA mehrmals durch die Erkennungssoftware laufen lassen. Jetzt halten Sie sich fest!“ Dr. Reiter machte eine lange Pause. „Der Mann, der das Herz von Benjamin Sattler verspeist hat, ist eindeutig nachweisbar … unser tot geglaubter Pilsensee Killer Angus Streitberger!“

      „Allmächd! Was?“ Boschi schluckte. „Das kann nicht sein! Der ist tot! Der liegt irgendwo da draußen im Ammersee. Sie müssen sich irren, Dr. Reiter!“

      „Herr Dippold, ich irre mich nie. Beim Fingerabdruck war ich mir noch nicht hundertprozentig sicher, aber die DNA ist eindeutig! 99,6 Prozent Übereinstimmung! Ich habe alles mehrmals überprüft und faxe Ihnen und Oberstaatsanwalt Höglmeier noch heute meine Auswertung zu. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag.“

      Fassungslos hörte Jette mit, was ihnen Dr. Reiter mitteilte. „Streitberger? Nein! Nein, das gibt es nicht! Das kann nicht sein!“ Jette sprang auf und rannte ans Wasser, das in leichten Wellen silbern glitzerte und am Ufer kleine Schaumkronen bildete. Jette wollte es einfach nicht glauben und fing an zu schreien. Laut, immer lauter und hysterischer brüllte sie den See an. „Du bist tot! Tot … tot …tot!“

      *

      Im Kommissariat Starnberg herrschte Ausnahmezustand, nachdem das Fax von Dr. Reiter eingetroffen war. Für 16 Uhr hatte Oberstaatsanwalt Höglmeier eine Pressekonferenz angesetzt. Einzig Sepp Brandl, der Leiter des angeschlossenen Polizeireviers blieb die Ruhe selbst und drückte gerade einen Schwall süßen Senf auf seine Leberkäs Semmel, als Jette und Boschi geschockt und deprimiert aus Herrsching zurückkamen.

      „Na, ihr zwei! Lebt der Irre doch noch?“, bemerkte Sepp Brandl ein wenig ironisch und biss ein großes Stück von seiner