Andre Rober

Ackerblut


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ob Meyers Tod direkt mit den Ein­satz­kräften in Verbindung gebracht werden kann, sei es durch den Druck bei Einkesselung von Aufrührern oder durch den Einsatz der Wasserwerfer, werden wir auf alle Fälle Folgendes tun: Hans, du besorgst die Einsatz­protokolle und den Funkverkehr der Kollegen aus Stuttgart. Und auch die Viedeoaufzeichnungen. Karen, Nico, ihr seht bitte nach, ob wir noch weitere Personalien vor Ort aufgenommen haben. Besucht diese Personen und findet heraus, ob es Zeugen gibt, die irgendetwas gesehen haben. Frau Hansen, wir bei­de ermitteln im Umfeld des Opfers und erkundigen uns bei behandelnden Ärzten, ob Vorerkrankungen bestanden ha­ben et cetera. Noch Fragen?«

      Die Ermittler sahen sich kurz gegenseitig an und schüt­telten dann den Kopf.

      »Also gut.«, sagte Bierman. »Dann an die Arbeit!«

      »Guten Abend, Zimmer 432 bitte« Sarah lehnte sich an den Tresen der Rezeption. Der Concierge griff in den Schrank und überreichte Sarah mit einem freundlichen Lä­cheln den Schlüssel zu ihrem temporären Obdach.

      »Bitte schön, keine Post für Sie. Noch irgendwelche Wün­sche?«

      »Können Sie mir bitte eine Flasche trockenen Riesling aufs Zim­mer bringen lassen?«

      »Einen Durbacher, selbstverständlich!«

      »Danke sehr!«

      Sarah nahm den Aufzug. Für die Treppen fehlte es ihr nach diesem ersten Arbeitstag an Motivation. In ihrem Zimmer angekommen, entledigte sie sich erst ihrer Jacke und der Schu­he, ging zu ihrem Koffer, den sie bei ihrer Ankunft am gestrigen Abend noch nicht hatte ausräumen können, und suchte sich etwas Bequemes zum Anziehen. Mit einer Baum­woll-Jogginghose, Kuschelsocken, einem T-Shirt und einem Hoodie begab sie sich ins Bad. Bevor sie sich in den Wohlfühlklamotten auf das Bett lümmelte, nahm sie noch den Weinkühler mit der geöffneten Flasche entgegen, zei­chnete auf der Rechnung ab und drückte dem Pagen drei Euro in die Hand. Sie schenkte sich ein Glas ein, legte sich auf das Bett und begann, den Tag zu resümieren. Eigentlich war alles sehr gut verlaufen. Die Kollegen waren alle in Or­dnung. Bierman, ihr Partner, etwas verschlossen, aber si­cher eine interessante Perönlichkeit. Karen schätzte Sarah als offenherzig und empathisch ein, Nico Berner als ein we­nig arrogant und machomäßig. Aber auch er war keinesfalls unsympathisch. Pfefferle mochte sie sehr, er verkörperte so etwas wie den Großvater, der mit seiner gutmütigen Art alles zusammenhielt. Bei Gröber hatte sie im ersten Moment Abneigung verspürt und sie fragte sich, wie manche Men­schen es schafften, ohne viel zu sagen oder zu tun, gleich einen negativen Eindruck zu hinterlassen. Nichts­destotrotz, alles in allem bewertete sie ihre neue Situation als überaus gut. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie schließlich ge­wissen Umständen in ihrer Heimat entfliehen wollte, in der Hof­fnung in der Ferne ihre Geschichte besser aufarbeiten zu können.

      Als hätte das Schicksal ihre Gedanken mitgelesen, klingelte in diesem Moment Sarahs Handy und im Display blinkte vollkommen unpersönlich Mutter im Rhythmus des Tons.

      Sarah verdrehte die Augen, nahm einen Schluck Wein und nahm das Gespräch entgegen.

      »Hansen«, meldete sie sich, vielleicht um unterbewusst zu sig­nalisieren, dass ihre Mutter nicht allgegenwärtig war, auch nicht als gespeicherter Kontakt auf ihrem Handy, wo Walburg Hansen durch einen bloßen Anruf eine nicht er­wün­schte Präsenz entwickeln konnte. Diese Präsenz und die damit verknüpften Reaktionen, die sie unweigerlich bei Sarah auslöste, waren ein Grund für ihren Weggang gewesen. Sie hatte festgestellt, dass die Gefühle und Stimmungen sie weniger hart überfluteten, wenn eine räumliche Distanz zu ihrer Mutter bestand.

      »Schatz, ich bin es! Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht! Warum hast du denn gestern nicht angerufen?«, klang die Stimme weinerlich aus dem Mobiltelefon.

      Der Kloß, der augenblicklich von Sarahs Hals Besitz er­griff, ließ sich nicht leicht wegschlucken, doch es gelang ihr, mit neutralem Tonfall und ohne Zittern in der Stimme zu antworten.

      »Ich bin gestern erst sehr spät hier angekommen, es war viel Verkehr und bereits dunkel und ich war einfach hunde­müde«, sagte sie und biss sich auf die Lippen, weil sie au­tomatisch in die Verteidigungsrolle geschlüpft war. Das konn­te sie so nicht stehen lassen!

      »Außerdem habe ich dir gesagt, dass ich sicher sehr viel zu tun haben werde und nicht weiß, wann ich dich erreichen kann«, fügte sie deswegen noch hinzu und wurde inner­lich drei Zentimeter größer.

      »Ach, deswegen bist du auch den ganzen Tag nicht dran­gegangen«, stellte ihre Mutter fest, und Sarah war froh, das Handy den Tag über im Hotelzimmer gelassen zu haben.

      »Ja genau. Und ich hatte auch gesagt, dass du mich bitte nur in Notfällen anrufen sollst. Aber gut… wie geht es dir denn? «

      Die folgende halbe Stunde bereute Sarah jede ein­­zelne Minute, Waldburg Hansen diese Frage gestellt zu ha­ben, denn das Lamentieren über ihre Einsamkeit, ihre Trauer und das öde Grau, in dem sie ihre letzten Lebensjahre jetzt fristen würde, zogen sie tiefer in eine schlech­te Stimmung, als sie es sich selbst eingestehen woll­te. Doch sie war zu mü­de, um ihrer Mutter die positiven Seiten ihres Lebens vorzuhalten oder sich mit einem men­talen Panzer zu um­geben und auf eine Diskussion einzusteigen, die, wenn es schlecht lief, zu einem emotio­nalen Fiasko an beiden Enden der Leitung führen konnte. Also beschränkte sie sich, wäh­rend sie ihren Wein trank, darauf, brav den aktiven Zuhörer zu mimen und ihrer Mut­ter am Ende des Telefonats eine gute Nacht zu wünschen.

      Obschon die Wolkendecke nur

      winzige Lücken ließ, drang vom Vollmond genügend Helligkeit durch, so dass man sich ohne künstliches Licht über den Asphalt hätte bewegen können. Unter den dichtbelaubten Bäumen aber, welche die Merianstraße säumten, war es noch ein wenig dunkler als unter freiem Himmel. Ein Pas­sant hätte das parkende Auto schon genauer in Augen­schein nehmen müssen, um zu erkennen, dass eine dunkel gekleidete Gestalt hinter dem Steuer saß. Die Straßenbe­leuchtung war schon vor etwa einer halben Stunde ausge­gangen und Fußgänger hatten sich seit mindestens andert­halb Stunden nicht mehr gezeigt. Bei den wenigen Fahr­zeugen, die seither aufgetaucht waren, hatte es sich alle­samt um Kranken- und Rettungswagen gehan­delt, die das etwa 100 Meter entfernte Sankt-Josefs-Kranken­haus angesteuert hatten. Trotzdem saß die Gestalt unbe­weglich da und starrte wie unter Hypnose auf das Gebäude in der Albert­straße, wo aus einem der abgedunkelten Fenster immer noch ein Lichtschein ins Freie fiel. Vor dem Institut der Rechts­medizin, das man von dem Standort aus gerade noch einsehen konnte, parkte nur ein Wagen, ein zitro­nengelber Fiat Panda. Ungeduld zählte sicher nicht zu den Schwächen des wartenden Mannes, trotzdem sah er zum wie­der­holten Mal auf die Leuchtziffern seiner Rolex. Drei Minuten nach zwei Uhr. Das Licht, das die Anwesenheit eines Instituts­mitarbeiters anzeigte, war alles andere als positiv zu be­werten. Wenn die Person nicht anderwei­tige Fälle auf­arbei­tete, beschäftigte sie sich wohl mit dem einzigen Leich­nam, welcher der Rechtsmedizin seinen Informanten zu Folge am heuti­gen Tag geliefert worden war. Jener Leichnam, von dem er gehofft hatte, dass er ohne Obduktion zu einem der Be­stat­tungsunternehmen gebracht werden würde. An einen Ort, an dem sein Vor­haben unendlich einfacher gewesen wäre, als jetzt. In Ge­danken tüftelte er bereits einen präzisen Plan aus, wie er vor­gehen würde, wenn der Mitarbeiter das Institut ver­lassen hatte.

      Michelle Schneider schlug das Laken am Kopfende des Seziertisches zurück, trat ans Fußende und deckte auch dort den Leichnam ab. Das Tuch faltete sie noch zweimal und leg­te es auf den Beistellwagen zu ihrer Linken. Sie klopfte auf die Außentaschen ihres weißen Laborkittels, brachte ihr Diktiergerät zum Vorschein und drückte den Aufnahme­schalter.

      »Aktenzeichen 07/BK-02. Es ist 23:17 Uhr. Beginn der äu­ßer­lichen Beschau. Der Tote ist männlich, weiß. Haarfarbe dunkelblond. Geschätzte Größe etwa ein Meter siebzig, ge­schätztes Gewicht etwa siebzig Kilogramm. Normale Sta­tur.«

      Sie hielt den Apparat an. Sorgfältig strich sie mit ihren la­texbehandschuhten Fingern durch die Haare und unter­such­te die Kopfhaut. Dann sah sie in Nasenlöcher, Mund- und Rachenraum. Langsam