Schleiern sich bereits die Hitze des Tages ahnen ließ.
Für die Beteiligten am Projekt Platon, im Polizeijargon richtiger
SOKO Platon, war es ein langer Freitagabend geworden
und Mertens und Wendehals waren die letzten gewesen, die die ‘Arbeitszentrale’ gegen 0:30 Uhr verlassen hatten.
Immerhin stand jetzt das Wochenende bevor, normalerweise.
Allerdings würde die Uhr der zu befürchtenden weiteren Abläufe auch vor einem Sonnabend keinen Halt machen und gnadenlos weiterticken. Und da auch zu befürchten stand, dass der Kern des noch Unüberschaubaren, die Wurzeln der Lösung dieses Falles irgendwo in Fern-Ost oder gar in den Staaten liegen würde und die Menschen dort in ihrer Arbeitswelt anderen Gesetzmäßigkeiten unterlagen, hatten die beiden Kommissare beschlossen, auch diesen Tag nach einem späten und ausgedehnten Frühstück der Aufklärung zu opfern und hatten sich anonym für einen Wochenend-Entspannungskurs der A-Sekte einschreiben lassen, für den es galt heute am Samstag um 14:00 Uhr zur Einführungsübung anzutreten.
*
Es erwartete die beiden ein riesiges unüberschaubares Gelände,
eine parkähnliche Anlage. Die Gebäude waren jahrhundertealte Herrenhäuser aus schweren Sandsteinquadern.
Tatsächlich: an dem rechten Flügel des circa dreieinhalb Meter hohen Doppeltores mit gotischem Spitzbogen hing die zweite Angel von sechsen nach unten. Die geschmiedeten Angeln wiesen die bourbonische Lilie in nach außen zeigenden Doppelbögen auf. Hier waren sie genau richtig, vor diesem Tor hatten irgendwann nachts die fotografierten Übergabeaktionen stattgefunden.
Es gab eine freundliche Begrüßung mit Vornamen und Handschlag, eine familiäre Atmosphäre. Das Zimmer allerdings, in dem die beiden untergebracht waren, stand in krassem diametralem Gegensatz zur Wuchtigkeit des Gebäudekomplexes.
War das Zimmer klein, war der Schrank noch kleiner und ganz klein das Bad, sodass sich Wendehals fragte, ob er da jemals
wieder herauskäme, einmal darin verkantet.
Und dass auf so wenig Raum so Vieles kaputt sein konnte!?
Die Spiegelkonsole im Bad hatte eine derart fatale Schräglage nach vorne unten, dass sie erst einmal mit einer mehrfach geknickten Zahnpastaverpackung abgestützt werden musste. Auch die Seifenschale zeigte die gleichen Symptome, ihr fiel ein zweimal geknickter Bierdeckel zum Opfer, der ohnehin bereits Generationen von gelben Rändern aufwies. Der Wasserhahn über dem winzigen Becken spritzte einem nur dann nicht auf die Hose, wenn man ihn zugedreht ließ. Mertens hing seine Lederjacke an einen überstehenden Bilderhaken, da nirgendwo eine andere Aufhängemöglichkeit entdeckt werden konnte. Der zweite Stuhl, der zum Sitzen am Tisch gedacht war, war in der hinteren Hälfte durchgebrochen. Der Rest war ohnehin zum Sitzen am Tisch ungeeignet, da die Sitzfläche viel zu hoch war; dafür eignete er sich als Schreibunterlage, da zudem der vierkufige Tisch irreparabel wackelte.
Da das Kopfteil des französischen Doppelbettes abgebrochen war, war das Bett ganz an die Wand gerückt worden, damit das Kopfteil nicht umfallen konnte. Der Effekt war allerdings auch, dass man im Bett, so nahe am Fenster, bei geöffnetem Fenster Halsstarre bekam. Und das bei den Außentemperaturen von mittlerweile leicht 30° C, bei denen eine Lüftung lebensnotwendig war.
Das Fenster lag praktischer Weise zudem direkt über dem Haupteingang, über dem eine riesige Lampe prangte, die die ganze Nacht über grelles Licht spendete.
Um das in etwa in Kauf nehmen zu können, existierte ein
Springrollo im Fenster: das war allerdings zu schmal und zu kurz für diese Fensteröffnung, sodass man im Dunkeln ohne Einschalten der ohnehin spärlichen Deckenbeleuchtung mühelos Zeitung lesen konnte.
Der Schrank in einer Nische, die durch den Dusch-Waschbecken-
WC-Schlauch bedingt war, verdrehte sich verdächtig nach einer Seite, sodass Mertens sicherheitshalber ein Sitzkissen als Keil umfunktionierte. Abgesehen davon, dass der Teppichvorleger vor dem Bett beim Betreten die Angewohnheit zeigte, sich am Bettkasten emporzuschieben und abgesehen von den zwei nicht-funktionierenden Lampen im Bad, die dritte musste für die anderen mitarbeiten, gab es genügend Toilettenpapier und den Hinweis, keine Binden in die Toilette zu werfen. Und da für die Nachtbeleuchtung zusätzlich durch einen mehrere Zentimeter dicken Spalt in der Tür zum Flur, der ebenfalls gleißend hell erleuchtet war, gesorgt war, brauchten sich die beiden bei in Frage kommenden nächtlichen Toilettenbesuchen über die Orientierung keine Gedanken zu machen.
Man schien hier trotz der stolzen ‘Schnupperpreise’ keinen größeren Wert auf lästiges Inventar zu legen, mehr nach dem Motto eines Managerseminars: früh Aufstehen, körperliche Entschlackung durch Holzhacken, frisches Quellwasser aus dem Brunnen, je härter die spartanischen Strohlager, desto effektiver, weil weniger abgelenkt die geistige Arbeit, danach ein karges, aber frugales Frühstück ...
Da sich das Kofferauspacken aufgrund des desolaten Zustandes des Schrankes erübrigt hatte, fanden sich Wendehals und Mertens pünktlich um 14:00 Uhr zur Begrüßung ein. Es gab eine Tasse grünen bitteren Tees zum Anstoßen, eine motivierende Ansprache des ‘Anstaltsleiters’ und nach dem gegenseitigen Vorstellen und Vornamennennen, und was man so beruflich mache - Mertens und Wendehals gaben sich als Verlagsvertreter aus - und was man sich von dem Wochenende verspreche, trennten sich die einundzwanzig Teilnehmer in die ihnen zugewiesenen Gruppen, in denen jeweils zu siebt eine erste mentale Lektion absolviert werden sollte. Während die eine Gruppe mit den Grundübungen
in Yoga begann, erlitt die zweite Gruppe die ersten Ganzkörpermassagen und die dritte Gruppe entspannte sich bei Hinduklängen, Räucherölen und rauchigen Dufthölzern.
Sobald Wendehals und Mertens, die es so gedreht hatten, dass sie gemeinsam in einer Gruppe waren, den ersten Entspannungsabschnitt hinter sich hatten, blieben bis zum Abendessen etwa zwei Stunden, Zeit, die für die Erkundung des eigenen Ich und der Transzendenz in andere Daseinsformen unter Zuhilfenahme von entspannenden Kassettenrecorderklängen genutzt werden sollten.
Wendehals und Mertens hatten jedoch etwas andere Pläne...
Sie fanden dann auch relativ schnell den Kellerabgang in die Untergeschosse, da sich ihr Quartier bereits im Haupthaus befand. Dort unten gab es Vorratsräume, eine hauseigene Wäscherei, Lagerräume für altes Mobiliar, das wohl noch maroder sein musste, als das, was in den Zimmern noch Verwendung fand.
Eine altmodische, überdimensionale Grudenheizung, die täglich einmal beschickt werden musste, wahlweise mit Holz, Kohle oder anderen Festbrennstoffen; Lagerraum für riesige Brikettberge;
einen Saunaraum mit angrenzenden Duschen und einen Ruheraum, der über Lichtschächte nach oben mit der Außenwelt verbunden war. Alles war in Neonlicht getaucht von Leuchtstoffröhrenleistenreihen, die überall an den Decken verliefen.
Auch eine intensive Suche in den hier wenigstens zur Zeit menschenleeren Räumen nach einem weiteren Abgang in das von dem Informanten P. beschriebene und von Chiang aus Hongkong zitierte Kelleruntergeschoss verlief anfangs ergebnislos.
Mertens und Wendehals tasteten schließlich die Wände ab, um nach irgendwelchen geheimen Mechanismen zu suchen, die durch
Verschieben oder Dagegendrücken Wände wie von Geisterhand bewegen oder verschwinden ließen. Erfolglos.
Mertens stutzte plötzlich, und irgendetwas in seinem Kopf sagte ihm, dass da etwas war, was so ohne weiteres keine einfache Erklärung fand und so, wie er es sah, störte und unlogisch war: er schaute sich noch einmal um, genau so, wie er es Sekunden zuvor getan hatte, um wieder dieselbe Reaktion seines Unterbewusstseins anzuregen und da erschien es wieder in seinem Gesichtsfeld, nachdem er sich noch einmal um die eigene Achse gedreht hatte:
Mertens blickte auf den Boden, der in hellgrau-weißem Carrara
gefliest war, mit Randfliesen in dunkelgrauen Farbtönen gehalten, sodass sich durch den dunkleren Stein quasi eine Wegbegrenzung ergab, jedenfalls optisch, denn der gesamte Fußboden war gefliest und rechts und