Ich lese ihr dann einige aktuelle Artikel vor, blicke zwischendurch über die Zeitung hinweg zu ihr hin, wenn ich den Kaffee schlürfe. Manchmal nickt sie nur, manchmal lächelt sie, wenn ich lache, manchmal wirft sie kurz Sätze ein, wie: #Sehr interessant# oder #Was sie nicht alles schreiben!#.
»Ja, nicht wahr?«
Sie reagiert bereits auf Lachen. Sie kann erkennen, wenn ich laut lache oder kichere. Dann freut sie sich. #Du bist so fröhlich. Das gefällt mir!#
Gestern hat sie mich überrascht, als ich fragte »Was gibt es denn heute in der Stadt?« Denn sie kann auch aktuelle Meldungen wiedergeben oder die Wettervorhersage.
#Warte, ich schaue kurz nach. Darf ich online gehen?#
Kutub hat dafür gesorgt, dass sie die Trackingtools blockiert. So können wir ins Internet, ohne uns zu verraten. Das Verbinden mit dem Netz dauert zwar etwas länger, weil es über verschiedene Spiegelserver im Ausland geht und die IP-Adresse mehrfach getauscht wird, aber irgendwann kommt dann doch eine Verbindung zustande. #Heute ist eine neue Ausstellung im Neuen Museum, über Nofretete. Aber wie wäre es mit Musik oder Theater? Ich höre gerne Jazz.#
»Jazz? Ach!«, fragte ich ungläubig.
#Ja, das würde ich gerne einmal erleben. Es gibt eine Jazzsession im Bluenote.#
So einen Wunsch hatte sie noch nie geäußert. Ich überlegte. Das Bluenote liegt in der Nähe der Kantstraße, ein Parkhaus ist direkt darunter. Technisch wäre das zu bewerkstelligen.
Jazz ist zwar nicht gerade mein Fall, aber eine Gelegenheit, mal gemeinsam auszugehen, wäre es. Da die Session erst gegen 23 Uhr beginnt, wäre das Risiko, unangenehm aufzufallen, sehr gering.
So habe ich sie komplett angezogen, abends, Jeans, T-Shirt, Nikies. Sie zurechtgemacht, nochmals voll aufgeladen und ins Auto gepackt. Beifahrersitz. Rollstuhl zusammengeklappt und hinten rein, ab die Post. EVA liebt es, Auto zu fahren, glaube ich. Sie dreht den Kopf zu jedem Geräusch und fragt, was das ist.
»Das ist die Alarmsirene eines Krankenwagens, Liebes, das Hupen eines Autos, das Quietschen von Autoreifen, das Brummen des Motors, das Klackern des Blinkers.«
Sie lernt gerne, und ihr Gesicht zeigt ein leises Lächeln, wenn sie etwas Neues in ihrer Datenbank abspeichert. Ich habe sie vor Kurzem vor einen spanischen Fernsehsender gesetzt. Jetzt spricht sie auch spanische Sätze. Die kann noch nicht mal ich selbst. Da muss die Spracherkennung bereits für mehrere Sprachen vorhanden sein. Ich werde Kutub mal fragen.
Im Parkhaus unter dem Bluenote wollte mir ein anderer Autofahrer helfen, EVA in den Rollstuhl zu packen. Er stutzte erst, als EVA fragte: #Willst du Sex mit mir?# Erschrocken schaute er erst mich, dann EVA an. War mir hoch unangenehm. Als er sah, dass EVA kein echter Mensch ist, lachte er verlegen. »Täuschend echt!«, half dann noch kurz, weil es peinlich gewesen wäre, einfach abzuhauen, entfernte sich dann aber rasch.
Im Bluenote war es so schummrig, dass niemand bemerkte, wie es um EVA bestellt ist. Die roten Sofaecken im blauen Schummerlicht mit den kleinen quadratischen Tischen garantieren ein wenig Privatsphäre. Wir waren etwas früh, es muss erst gegen halb elf gewesen sein. Es war aber bereits einigermaßen voll, obwohl der richtige Ansturm erst nach Mitternacht zu erwarten war. Dann brandet die Masse der Nachtschwärmer von anderen Bars und Pubs wie eine Flutwelle durch die Stadt. Im Bluenote bleibt es meist ruhiger als woanders, weil auf Jazz … zu anspruchsvoll, wahrscheinlich.
Die Kellnerin, eine hübsche Schwarze, erkundigte sich mitfühlend nach unseren Wünschen.
»Was möchtest du trinken?«, fragte ich EVA, da sie die Kellnerin bei der Geräuschkulisse nicht verstand. Ich übersetzte ihr: #Danke, Liebster, ich benötige keinen Strom, meine Akkus sind zu fünfundneunzig Prozent aufgeladen#, mit »einen Mojito und für mich einen Bacardi Cola, bitte«. Die Kellnerin schien nichts zu bemerken. War ja auch ziemlich laut und dunkel. EVA bewegt Mund und Augen. Man muss schon genauer hinschauen, wenn man die Täuschung erkennen möchte. So kam es, dass ich immer zwei Getränke bestellte, mit dem Ergebnis, dass ich eigentlich nicht mehr hätte nach Hause fahren können. Doch wie die Dinge standen, hätte ich EVA nicht mit dem Taxi nach Hause gebracht.
Als sich Musiker eingefunden hatten, die eine Jamsession begannen, da lauschte EVA interessiert.
#Was ist das für ein Stück?#, fragte sie jedes Mal.
»Ich glaube, die improvisieren. Glaube nicht, dass sie ein Stück spielen«, antwortete ich ausweichend.
Einmal sagte sie: #Nein, Liebster, sei mir nicht böse, wenn ich dich korrigiere, das ist 'The Nearness Of You'.#
»Du kennst es?«
Sie nickte. #Es ist in meiner Datenbank abgespeichert, allerdings unterscheiden sich einzelne Phrasen von der Vorlage.#
EVA verwundert mich immer wieder.
»Magst du es?«, wollte ich verblüfft wissen, obwohl ich mir sicher war, eine unsinnige Frage gestellt zu haben.
Doch sie lächelte und nickte: #Ich liebe alle Lieder, die in meiner Datenbank abgespeichert sind.#
»Wie viele Lieder sind das ?«
#Zweiunddreißigtausendfünfunddreißig.#
»Und die kennst du alle?«
Die Antwort kam etwas verzögert. Sie nickte, dann fragte sie mich:#Findest du es überheblich, wenn ich dies sage?#
»Ich bin verwundert, EVA, und ich bin stolz, eine so kluge Frau zu haben.«
#Sind wir verheiratet?#
Ich lachte. »Nein, aber du bist trotzdem meine Frau.«
Dann, mein Verstand war nach vier Mojitos und ebenso vielen Bacardi Cola schon ein wenig flockig, kniete ich spontan vor ihr nieder und fragte: »Willst du mich heiraten?« Das hätte ich nicht tun sollen, denn dieser Akt war nicht unbemerkt geblieben. Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter. »Ey, Mann, das ist voll cool. Ich wünschte, mir hätte jemand mal so einen Antrag gemacht.« Die etwas beschwipste Dame im schicken Abendkleid ließ sich neben uns auf einen freien Stuhl fallen und prostete EVA zu. Sie war nicht unansehnlich, aber der Alkohol hatte schon tiefe Spuren in ihr Gesicht eingegraben. Als EVA ihren Trinkspruch nicht erwiderte, stutzte sie kurz, murmelte ein: »Sorry, ich störe wohl« und schwankte davon. Dann kam die Kellnerin, stellte zwei Gläser mit Champus vor uns auf den Tisch. »Von dem Herrn am Bass. Ob sie etwas für euch spielen können!«
Au weia, dachte ich. Was soll ich antworten? »Möchtest du was hören?«, flüsterte ich EVA zu, die mitleidig blickenden Augen der Umherstehenden und Sitzenden meidend, denen nicht entgangen war, dass EVA regungslos im Rollstuhl saß und sich kaum bewegte. Schweres Unfallopfer oder MS oder so. Zu meiner Überraschung antwortete EVA: #You Are The Sunshine Of My Life.#
»Stevie Wonder?«, fragte ich nach, denn das Lied kannte ich noch aus meiner Jugend.
Sie nickte und lächelte. Mir fuhr eine Gänsehaut den Rücken herunter und Tränen standen mir in den Augen, als die Musiker eine etwas freie Variation dieses Songs darboten. Mit Jazz ist das so eine Sache, weshalb ich ihn nicht besonders liebe. Da gibt es eine Phrase, die eine Art Thema ist. So weit, so gut. Dann endet aber jedes Lied damit, dass alle die Skalen hoch und wieder runter spielen, jeder ein Solo bekommt, wo er nochmals die Skalen hoch und wieder runter spielt, bis das Stück sich über eine Stunde wie ein halbtoter Wurm durch das Ohr zieht. Woher die Musiker wissen, wann sie gemeinsam aufhören müssen, ist mir ein Rätsel. Ich habe aber noch nie erlebt, dass einer den letzten Takt verpasst und versehentlich weitergespielt hätte.
Das Publikum ist jedoch meist mit seinen Gesprächen beschäftigt und klatscht entweder höflich oder überrascht, wenn die Musik verstummt, beziehungsweise nicht einmal dann.
Doch jetzt spielten sie das Sunshine–Lied mit so leidenschaftlicher Hingabe, immer wieder zu uns hinüber lächelnd, dass ich hätte heulen können. Ich fand es dann an der Zeit, das Bluenote zu verlassen. Ich weiß noch unscharf, dass uns jemand die Tür aufhielt, als wir rausrollerten, und uns einen schönen Abend wünschte. Wie ich mit EVA nach Hause gekommen bin, und wann, entzieht