Liara Frye

Die Weltenwanderin


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Manieren fehlen. Claudia war nämlich stark der Meinung, dass in diesem Haus der Mann fehlte, der schon in Alexis´ frühen Jahren geflüchtet war und sie mit ihrer Mutter allein gelassen hatte. Aber als sie näher darüber nachdachte, verblasste die Erinnerung immer mehr in ihrem Kopf. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, was sie gerade gedacht hatte.

      Irritiert wischte sie den Gedanken mit einer Handbewegung weg, woraufhin Claudia sie nur anstarrte, als stünde eine Geistesgestörte vor ihr. Offenbar hatte es sehr seltsam ausgesehen.

      »Heißt das, Mum ist mal wieder nicht da?«, fragte Alexis und versuchte, die Enttäuschung zu verbergen, die in ihr hochstieg.

      Wie so oft spielte ihre Tante die Babysitterin. Dass ausgerechnet sie die Rolle übernehmen musste, empfand Alexis als Demütigung. Aber ihre Mutter hatte nun mal nicht genug Geld, um jemanden einstellen zu können. Sie arbeitete von früh bis spät im Büro, sodass Alexis und sie sich kaum sahen. Und eigentlich war Alexis mit sechzehn Jahren mittlerweile alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, zudem nun ihr Augenlicht zurückgekehrt war. Trotzdem kam Claudia, zu ihrer beider Leidwesen, immer noch herüber.

      Sie spürte den durchdringenden Blick ihrer Tante auf sich.

      »Na, wenn ich mir dich so ansehe, frage ich mich doch glatt, wieso sie sich lieber in der Arbeit versteckt, anstatt hier zu sein.«

       Autsch. Das tut weh.

      »Ich habe übrigens gebacken«, sprach Claudia weiter, als wäre nichts geschehen, »heute Abend ist ein Fest im Dorf. Ich gehe mit Ralf dorthin, kommst du mit?«

      Alexis schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht hin, hab schon was vor.«

      Claudia warf ihr einen perplexen Blick zu, doch im nächsten Moment erhellten die Züge von Erkenntnis ihr Gesicht, als hätte sie sich eben an etwas erinnert. Obwohl es dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen nichts Gutes sein konnte. Schließlich war ihr Mund zu einem Strich geworden.

      Ohne Claudias Antwort abzuwarten, sprintete Alexis endgültig die Treppenstufen hoch und ließ ihre Tante zurück. Noch während sie die Treppe nahm, brüllte sie: »Ich bin Hausaufgaben machen!«

      *

      »Wow, das war echt … cool«, gab Alexis zu. Ihre Mundwinkel verzogen sich automatisch zu einem verunsicherten Lächeln.

      Es war so ungewohnt gewesen, die Personen nicht zu fühlen, die auf der Leinwand miteinander sprachen. Sie hatte keine Ahnung von ihren Energien, hatte sich ganz auf ihre Augen verlassen müssen. Natürlich faszinierte sie diese Art, die Dinge wahrzunehmen, aber es ließ sie auch stutzen. Es war, als hätte man ihr für diese Zeit einen Sinn entzogen, der sich sonst überlebenswichtig angefühlt hatte.

      Umso überraschter war sie, als plötzlich jemand Neues hinter ihr erschien. Wieso hatte sie das nicht vorher gespürt? Es war, als würde ihr außergewöhnlicher Sinn allmählich verschwinden. Und ein Teil von ihr sehnte ihn sich mit aller Kraft zurück, auch wenn das bedeuten könnte, die Sehkraft wieder aufgeben zu müssen. Schließlich war er erst in den Hintergrund gerückt, seit sie ihr Augenlicht bekommen hatte.

      Langsam drehte sich Alexis um und erkannte den schwarzen Haarschopf wieder. »Milan, schon wieder du?«, fragte sie müde. »Lass mich in Ruhe, habe ich dir nicht gesagt ...«

      »Du hättest keine Zeit? Ja, das hast du.« Die Sonne sank allmählich tiefer und tauchte seine Haut in ein zartes Orange. Die Hand hielt er sich über die Augen, damit diese mit Schatten bedeckt wurden. »Aber es ist wirklich wichtig. Ich habe nur ein paar Fragen.«

      Alexis zögerte. Sie warf einen Blick auf ihre Freundinnen, die sich bereits kichernd zurückgezogen hatten.

      »Bis morgen«, rief April und verschwand mit ihren beiden Begleiterinnen kurz darauf hinter dem großen Einkaufszentrum.

      Na toll. Alexis rollte mit den Augen und wandte sich wieder Milan zu. Ein weiteres Mal fragte sie sich, woher sein Interesse kam, da sie ja kaum etwas miteinander zu tun hatten. Nach allem, was sie wusste (und das war nicht viel), waren sie grundverschieden.

      Als sie nicht antwortete, redete er einfach weiter. »Seit wann kannst du wieder sehen?«

      Alexis runzelte die Stirn. Darum ging es ihm? Versuchte er wie der Doktor, eine Erklärung für ihr Phänomen zu finden? »Das war Samstag. Vor zwei Tagen.«

      Der Junge nickte und runzelte nachdenklich die Stirn. »Das ging schnell … Das ging echt schnell …«

      »Was ging schnell?«, hakte Alexis nach, die sein Gemurmel neugierig machte.

      Doch er schüttelte nur den Kopf, mittlerweile blass geworden. »Seit wann bist du in dieser Klasse, Alexis?«

      Fast musste sie lachen. Wollte er sie auf den Arm nehmen? »Das weißt du doch, wir sind von Anfang an auf diese Schule gegangen, seit ...« Doch sie konnte nicht weitersprechen, die Erinnerung wollte erst nicht kommen. Dann fiel es ihr wieder ein. »Seit wir zehn sind. Und soweit ich weiß, hatten wir nie besonders viel miteinander zu tun. Was also willst du von mir?«

      Milan schloss kurz die Augen und antwortete, obwohl seine Lippen sich kaum bewegten. »Du warst nie in dieser Klasse.« Er öffnete die Augen und als sie hineinsah, wusste sie, dass es die Wahrheit war. »Vor heute«.

      Er drehte sich um und wollte gehen, doch Alexis packte ihn am Arm. »Was redest du da? Wie kommst du darauf?«

      Wahrscheinlich versuchte er zu lächeln, jedenfalls zogen sich seine Mundwinkel leicht nach oben. »Weil du vor ein paar Tagen noch blind warst und nicht lesen konntest. Auf welche Schule bist du vorher wirklich gegangen, Alexis?«

      Er sprach mit ihr, als würde er einem kleinen Kind das Offensichtliche erklären. Sie hatte kaum wahrgenommen, dass er sich ihrem Griff entzogen hatte und bereits in der Dunkelheit verschwand. Auf welche Schule ging ich? Sie kannte die Antwort. Natürlich kannte sie sie. Schließlich konnte sie die Blindenschrift lesen.

      Etwas in ihr tauchte auf, doch sie konnte es nicht erfassen. Es war wie ein Stück von Papier, das vom Großen und Ganzen abgerissen worden war und selbst der eine Buchstabe, den man erkennen sollte, war unleserlich. Sie wollte nach diesem Fetzen greifen, doch er verschwand schon wieder in der Tiefe.

      Fragen wirbelten in ihrem Kopf umher und ließen nicht locker. Wieso ging sie auf eine normale Schule mit Leuten, die sie schon ewig zu kennen glaubte? Wieso konnte sie lesen, wie jeder andere Mensch auch? Und die wichtigste Frage war wohl überhaupt: Warum verschwand ihre Gabe?

      Aber etwas war ihr klargeworden: Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Vergangenheit wirklich aussah. Und sie würde nicht ruhen, ehe sie Antworten auf diese Fragen gefunden hatte.

      Kapitel 3

       Maya

       »Wenn du das Unmögliche ausgeschlossen hast, dann ist das, was übrig bleibt, die Wahrheit, so unwahrscheinlich sie auch ist.«

       - Arthur Conan Doyle

      »Eine andere Welt?« Maya stemmte die Hände in die Hüfte. »Klar doch, und ich bin die Kaiserin von China«, stieß sie hysterisch hervor.

      Der Junge runzelte die Stirn. »Du siehst nicht aus wie eine Kaiserin.«

      Fast hätte sie gelacht, aber als sie ihn genauer betrachtete, stellte sie fest, dass er ernsthaft verwundert war. »Das ist nur so 'ne Redewendung. Ihr müsst ganz schön weit weg von der normalen Zivilisation leben, sonst wüsstet ihr das.«

      Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Maya die beiden und hob den Finger. »Also, wo bin ich?«

      Wieder antwortete der Junge, diesmal in einem leicht genervten Ton. »Das sagte ich schon, in Kaltru. Wir wissen nicht, wie du hier her gekommen bist …« Er wandte sich an Ercan, der ihn nicht so überzeugt ansah. »Außer sie ist ...«

      »Außer ich bin was?« Maya sah zwischen den beiden Männern hin und her, bis Ercan schließlich