bitte Sie, Fürst, was reden Sie! Kommen Sie zur Besinnung!«
»Ich kann ohne Aglaja nicht leben ... ich muß unbedingt mit ihr sprechen! Ich ... ich werde bald im Schlaf sterben; ich dachte schon, ich würde in dieser Nacht im Schlaf sterben. Oh, wenn Aglaja es wüßte, alles wüßte; das heißt schlechthin alles. Denn hierbei muß man alles wissen; das ist das erste Erfordernis! Warum können wir niemals alles über einen andern erfahren, wo es doch nötig ist, wo der andere sich schuldig gemacht hat ...! Ich weiß übrigens nicht, was ich rede; ich bin ganz verwirrt; Sie haben mich furchtbar aufgeregt ... Hat sie denn wirklich auch jetzt noch ein solches Gesicht wie damals, als sie weglief? O ja, ich habe eine Schuld auf mich geladen! Höchstwahrscheinlich bin ich an allem schuld. Ich weiß noch nicht, inwiefern; aber ich bin schuld. Es liegt da etwas vor, was ich Ihnen nicht erklären kann, Jewgeni Pawlowitsch; ich finde nicht die richtigen Ausdrücke; aber ... Aglaja Iwanowna wird es verstehen! Oh, ich habe immer geglaubt, daß sie es verstehen wird.«
»Nein, Fürst, sie wird es nicht verstehen! Aglaja Iwanowna hat wie eine Frau, wie ein Mensch geliebt, und nicht wie ... wie ein abstrakter Geist. Wissen Sie was, mein armer Fürst: das Wahrscheinlichste ist, daß Sie weder die eine noch die andere jemals geliebt haben!«
»Ich weiß es nicht ... vielleicht haben Sie in vielem recht, Jewgeni Pawlowitsch. Sie sind ein sehr verständiger Mensch, Jewgeni Pawlowitsch; ach, ich bekomme wieder Kopfschmerzen; lassen Sie uns zu ihr gehen! Um Gottes willen, um Gottes willen!«
»Aber ich sage Ihnen ja, daß sie nicht in Pawlowsk ist; sie ist in Kolmino.«
»Dann wollen wir nach Kolmino fahren; gleich, gleich!«
»Das ist un-mög-lich!« erwiderte Jewgeni Pawlowitsch gedehnt und stand auf.
»Hören Sie, ich werde einen Brief schreiben; bringen Sie den Brief hin!«
»Nein, Fürst, nein! Dispensieren Sie mich von solchen Aufträgen; ich kann sie nicht ausführen!«
Sie trennten sich. Jewgeni Pawlowitsch ging in seltsamen Gedanken fort: auch er war zu der Überzeugung gekommen, daß der Fürst nicht ganz bei Verstand sei. Und was hatte es eigentlich mit diesem Gesicht auf sich, das er fürchtete, und das er so liebte? Und gleichzeitig konnte er, Aglajas beraubt, vielleicht wirklich sterben, so daß Aglaja vielleicht niemals erfahren würde, wie sehr er sie geliebt hatte! Haha! Und wie konnte er zwei zugleich lieben! Mit zwei verschiedenen Arten von Liebe? Das war interessant ... Der arme Idiot! Und was würde nun aus ihm werden?
X
Der Fürst starb indes nicht vor seiner Hochzeit, weder im Wachen noch »im Schlaf«, wie er es im Gespräch mit Jewgeni Pawlowitsch prophezeit hatte. Vielleicht schlief er wirklich schlecht und hatte schlimme Träume; aber bei Tag, im Verkehr mit Menschen, schien er gesund und sogar zufrieden zu sein, nur manchmal sehr nachdenklich, aber dies namentlich wenn er allein war. Die Hochzeit wurde beeilt; sie sollte etwa eine Woche nach Jewgeni Pawlowitschs Besuch stattfinden. Bei solcher Eile hätten selbst die besten Freunde des Fürsten, wenn er solche gehabt hätte, sich in ihren Bemühungen, den unglücklichen Verrückten zu retten, getäuscht gesehen. Es ging ein Gerücht, als ob Jewgeni Pawlowitschs Besuch teilweise von dem General Iwan Fjodorowitsch und seiner Gattin Lisaweta Prokofjewna veranlaßt worden sei. Aber wenn sie auch beide in ihrer maßlosen Herzensgüte wünschen mochten, den bedauernswerten Irren vom Abgrund zu retten, so mußten sie sich natürlich doch auf diesen schwachen Versuch beschränken; weder ihre Lage noch auch vielleicht ihre Herzensstimmung (was nur natürlich war) konnten sie zu ernsthafteren Anstrengungen anregen. Wir haben erwähnt, daß sogar die Personen aus der nächsten Umgebung des Fürsten sich teilweise gegen ihn erklärten. Wjera Lebedjewa beschränkte sich übrigens darauf, im stillen für sich zu weinen und mehr als früher in ihrer eigenen Wohnung zu sitzen und weniger zum Fürsten hereinzukommen. Kolja verlor in dieser Zeit seinen Vater; der Alte war infolge eines zweiten Schlaganfalls acht Tage nach dem ersten gestorben. Der Fürst nahm großen Anteil an dem Kummer der Familie und brachte in der ersten Zeit täglich einige Stunden bei Nina Alexandrowna zu; er war auch bei der Beerdigung und in der Kirche. Vielen fiel es auf, daß das in der Kirche anwesende Publikum das Erscheinen und Weggehen des Fürsten mit unwillkürlichem Geflüster begleitete; dasselbe geschah auch oft auf der Straße und im Park: wenn er vorbeiging oder vorbeifuhr, fing man an, von ihm zu reden, nannte seinen Namen und zeigte auf ihn; auch Nastasja Filippownas Name war aus diesen Gesprächen herauszuhören. Auch bei der Beerdigung suchten die Leute sie mit den Augen; aber sie war nicht anwesend. Auch die Hauptmannsfrau war nicht bei der Beerdigung; es war Lebedjew gelungen, sie für eine Weile fernzuhalten und unschädlich zu machen. Die Seelenmesse machte auf den Fürsten einen starken, ergreifenden Eindruck; er flüsterte Lebedjew in Erwiderung auf eine an ihn gerichtete Frage noch in der Kirche zu, daß dies fast die erste rechtgläubige Seelenmesse sei, der er beiwohne; er erinnere sich nur, einmal in seiner Kindheit bei einer Seelenmesse in einer Dorfkirche zugegen gewesen zu sein.
»Ja, es ist einem, als ob da im Sarg gar nicht derselbe Mensch vor einem läge, den wir noch vor kurzem zu unserm Vorsitzenden ernannt haben; erinnern Sie sich noch?« flüsterte Lebedjew dem Fürsten zu. »Wen suchen Sie denn?«
»Ich sehe mich nur so um; es schien mir ...«
»Suchen Sie Rogoschin?«
»Ist er etwa hier?«
»Ja, er ist in der Kirche.«
»Darum war mir auch, als ob seine Augen auftauchten«, murmelte der Fürst in starker Verwirrung. »Aber ... warum ist er denn hier? Ist er eingeladen worden?«
»Das ist niemandem in den Sinn gekommen. Er ist ja mit der Familie überhaupt nicht bekannt. Hier sind ja allerlei Leute, ein buntes Publikum. Aber warum wundern Sie sich darüber so? Ich treffe ihn jetzt häufig; in der letzten Woche bin ich ihm schon ungefähr viermal hier in Pawlowsk begegnet.«
»Ich habe ihn seitdem noch nicht ein einziges Mal gesehen«, murmelte der Fürst.
Da auch Nastasja Filippowna ihm nicht mitgeteilt hatte, daß sie Rogoschin »seitdem« gesehen hätte, so gelangte der Fürst jetzt zu der Ansicht, daß Rogoschin aus irgendeinem Grund es absichtlich vermied, ihnen vor die Augen zu kommen. Diesen ganzen Tag über war er sehr nachdenklich, während Nastasja Filippowna den ganzen Tag und den ganzen Abend sich in überaus heiterer Stimmung befand. Kolja, der sich mit dem Fürsten noch vor dem Tod seines Vaters versöhnt hatte, schlug ihm, da die Sache nötig und unaufschiebbar war, als Marschälle Keller und Burdowski vor. Er verbürgte sich dafür, daß Keller sich anständig benehmen und vielleicht sogar »von Nutzen« sein werde; von Burdowski brauchte man gar nicht erst zu reden; der war ein stiller, bescheidener Mensch. Nina Alexandrowna und Lebedjew bemerkten dem Fürsten, wenn die Hochzeit nun einmal beschlossene Sache sei, warum sie dann gerade in Pawlowsk und noch dazu in der Hochsaison der Sommerfrische so öffentlich gefeiert werden solle? Ob es nicht besser sei, sie in Petersburg und zu Hause zu veranstalten? Dem Fürsten war es durchaus klar, worauf alle diese Befürchtungen hinzielten; aber er antwortete kurz und schlicht, dies sei Nastasja Filippownas dringender Wunsch.
Am nächsten Tag erschien bei dem Fürsten auch Keller, der benachrichtigt worden war, daß er Hochzeitsmarschall sein solle. Bevor er eintrat, blieb er in der Tür stehen, hob, sobald er den Fürsten erblickte, die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe und rief, wie wenn er einen Eid leistete:
»Ich werde nicht trinken!«
Dann trat er an den Fürsten heran, schloß ihn kräftig in die Arme, schüttelte ihm beide Hände und erklärte, er habe allerdings zu Anfang, als er von der Sache gehört habe, eine feindliche Stellung dagegen eingenommen und das auch beim Billard ausgesprochen, und zwar aus keinem andern Grund, als weil er dem Fürsten keine andere als eine Prinzessin de Rohan oder mindestens de Chabot zugedacht und mit der Ungeduld eines Freundes täglich auf die Verwirklichung dieses Planes gewartet habe; aber jetzt sehe er selbst, daß der Fürst eine mindestens zwölfmal so edle Gesinnung habe als sie »alle zusammen«! Denn er strebe nicht nach Glanz, nicht nach Reichtum, nicht einmal nach äußerer Ehre, sondern nur nach der Wahrheit! Die Herzensneigungen hochgestellter Persönlichkeiten würden eben