Anders Sein
Von Natascha Neumann
Buchbeschreibung:
Buchbeschreibung:
Der Roman erzählt die Geschichte des vierzehnjährigen Matthis. Aufgewachsen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Hof seiner Eltern wünscht er sich nichts mehr, als seine Zukunft selbst zu gestalten. Anders als seine Brüder möchte er fort vom Hof. Der Zufall hilft ihm, als Lehrling in einer anderen Stadt zu leben, aber schon bald merkt er, dass auch dies nicht seine Bestimmung ist. Aber Matthis macht seinen Weg – mit einer ungewöhnlichen und neuartigen Lösung.
Über den Autor:
Über den Autor:
Natascha Neumann ist 1963 geboren. Aufgewachsen in der Nähe von Bielefeld hat sie als Erzieherin gearbeitet, ihre Heimat aber verlassen und in Mainz neu angefangen. Nach einer Umschulung und jahrelanger Arbeit für den SWR wechselte sie ins Privatleben und widmete sich dem Schreiben.
Sie lebt noch immer mit Mann und Hund in Mainz.
Anders Sein
Der Weg
Von Natascha Neumann
. Auflage, 2022
© Natascha Neumann – alle Rechte vorbehalten.
1.
»Matthis!«
Der große, schlaksige Junge drehte sich zu seiner Mutter um, den einen Holzschuh in der Hand, den anderen am Fuß. »Hmm?«, knurrte er missmutig. »Ich bin auf dem Weg in den Schweinestall, ich will schnell fertig werden.«
»Du gehst heute nicht zu den Schweinen! Hier ist ein Beutel mit Äpfeln und Wein. Bring ihn zu Hannah und helf ihr ein wenig mit den Ziegen, ja? Sei aber zum Abendbrot zurück!«
Matthis Meyer zu Ollerdissen blieb der Mund offen stehen. Er starrte seine Mutter an, umarmte sie dann ungeniert und schleuderte die Holzschuhe von den Füßen. »Ja, Mutter, gern.« Er lachte übers ganze Gesicht, wahrend er sich umzog und auf den Weg machte. Fröhlich pfiff der Vierzehnjährige vor sich hin.
Die brachliegenden Felder glänzten schwarz vor Nässe, die Tautropfen auf der Wiese schimmerten in der Vorfrühlingssonne. Knapp eine Stunde würde er brauchen. Er freute sich auf seine Tante Hannah, die so anschaulich Geschichten erzählte, dass er alles vor sich sah, was sie beschrieb, und sogar nachts davon träumte. Feen und Zwerge, die Riesen und Räuber – Hannah ließ sie lebendig werden. Sie war die Einzige, die ihn immer wieder ermutigte, seine Träume zu verwirklichen. Ihr berichtete er alles, weil sie ihn ernst nahm. Außerdem liebte Matthis ihren Sohn, seinen Vetter Pauli, wie einen kleinen Bruder.
»Sie ist verrückt, eine sture, eigensinnige alte Vettel!«, hatte sein Vater vergangene Woche zu seiner Mutter gesagt. »Sorge endlich dafür, dass sie zur Vernunft kommt und sich benimmt, wie es sich für eine Witwe mit Kind gehört!«
Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt, was seinen Vater weiter aufgebracht hatte. Matthis hätte nicht lauschen sollen, aber seine Neugierde hatte ihn überwältigt.
»Heutzutage ist es nicht so selten, dass Witwen im eigenen Haus bleiben«, gab Mutter scheinbar ruhig zurück.
»Aber es gehört sich nicht! Nur weil einige Weiber allein leben, muss deine Schwester es nicht tun! Was wirft das denn für ein Bild auf uns, auf mich? Und das mit diesem Balg?«
»Du darfst so nicht reden«, widersprach Mutter, »nicht einmal der Pastor findet Hannahs Verhalten sündhaft.«
»Halt deinen Mund, Weib. In meinem Haus hat nicht der Pfaffe das Sagen!« Er hatte einen knallroten Kopf und fuchtelte wild mit den Armen, um seinen Worten Nachdruck verleihen.
»Aber Karl«, Mutter tat einen weiteren Schritt auf Vater zu, vermutlich, um ihn zu beruhigen. Der jedoch stieß sie so kräftig vor die Brust, dass sie wankte und gegen den Tisch fiel. Während sie Halt suchte, war Vater mit großen Schritten zur Tür nach draußen gestürmt. Matthis hatte sich geduckt, damit er nicht erwischt wurde, aber der Bauer war so in seine Wut verstrickt, dass er blindlings hinaus gestapft war.
Die Pfützen auf dem Pfad waren voller Eis, an einigen Stellen auf den Äckern lag Schnee. Matthis fror ein wenig in seiner dünnen Joppe, es war seine beste Jacke – seine einzige, um genau zu sein, und er hatte sie letzten Monat zu seinem Geburtstag bekommen. Sicher, seine drei älteren Brüder hatten sie vor ihm getragen, aber seine Mutter hatte sie ausgebessert, dass sie so gut wie neu wirkte.
Er hatte nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft, deshalb lief er nun ein bisschen schneller, die Bewegung würde ihn warm halten.
Schon bald gelangte er an den Schmiedebach, der zu dieser Jahreszeit jede Menge Wasser führte. Einige hundert Meter weiter unten gab es eine Holzbrücke. Matthis fand es wie immer überflüssig, diesen Umweg zu nehmen. Er nahm Anlauf, sprang und landete im feuchten Gras, kam aber ins Schliddern, versuchte, an den Ästen der alten Trauerweide Halt zu finden, doch hier war alles so glitschig, dass er erneut abrutschte. Der Sack glitt ihm aus den kalten Händen, er schnappte nach ihm, fiel dabei zur Seite und landete im Matsch. Einen Augenblick lang lag er dort und keuchte. »Mist«, dachte er im Aufstehen, »aber es ist ja noch mal gut gegangen.« Er griff nach dem Sack, der sich geöffnet hatte, und sammelte die Äpfel wieder ein. »Die Fallstellen werden Tante Hannah und Pauli nichts ausmachen, die Flaschen sind zum Glück heil geblieben. Aber wo ist meine Mütze gelandet?«
Er stapfte zwei Schritte vorwärts, zuckte dann wie von einer Schlange gebissen zurück. Was war das denn? Dort im hohen Ufergras im Gebüsch, da lag etwas Seltsames. Voller Spannung beugte er sich ein Stück vor und blickte auf ein stämmiges, überaus behaartes Bein.
»Allmächtiger!«, schrie Matthis auf und hob die Hände vor die Augen. »Was um Himmels willen - ?«
Sein Herz schlug wie wild, ihm war flau im Magen, aber die Neugier siegte, er senkte die Hände und schaute tapfer genauer hin.
Da lag ein Mann, bäuchlings und stumm. Sein anderes Bein lag in einem merkwürdigen Winkel, seine Kleidung war nass und schmutzig. Matthis schluckte, sein Mund war trocken.
Sicher, er hatte schon Tote gesehen, erst letztes Jahr seinen Großvater: fein aufgebahrt in seinem besten Hemd, die Hände gefaltet, der Bart gestutzt und gekämmt.
Diesen Mann hier am Wegesrand zu entdecken, jagte ihm Schauer über den Rücken.
Er fröstelte stärker, seine Nackenhaare stellten sich auf. Er zog seine Jacke enger um sich und traute sich dann noch einen Schritt weiter vor. »Komm, du bist doch kein Wickelkind mehr!«, sprach er sich selbst laut Mut zu. Fast hätte er dadurch das Wimmern überhört. Plötzlich war alle Angst wie weggeblasen. Er kniete sich hin, beugte sich nah zu dem Mann herunter, da spürte er an seiner Wange den dünnen Atem des Fremden. Der Mann war nicht tot. Matthis nahm seine Hand und hätte sie fast wieder fallen lassen, so heiß war sie. Er schaute zögerlich hinunter auf ihn und bemerkte getrocknetes Blut und eine Wunde am Hinterkopf. »Hallo?« Zaghaft zog er ein wenig am Ärmel des Fremden, der rührte sich nicht. »Ich bin Matthis, hören Sie?«, er rüttelte etwas stärker an dem Arm, bekam jedoch nur ein leichtes Wimmern als Antwort.
Wie würde Anna sich in so einem Fall verhalten? Er zog, innerlich ein bisschen widerstrebend, seine Jacke aus, um den Mann damit zuzudecken.
Dann griff er instinktiv in den wohl gehüteten Sack und holte eine Flasche heraus. »Wein stärkt«, hatte seine Mutter gesagt, wenn sie Opa ein Gläschen eingeschenkt hatte, immer nur einen winzigen Schluck, denn das Getränk kostete viel und es war schwer, überhaupt mal eine Flasche zu bekommen. Dies hier war ein Notfall, ganz sicher. Er hielt sie vorsichtig an den Mund des Verletzten und versuchte, mit der anderen Hand dessen Kopf zu stützen. Irgendwie gelang ihm dies Kunststück, der Mann trank ein wenig, ließ sich dann wieder ins Gras sinken. Er öffnete für einen Moment seine Augen, sah den Jungen dankbar an und hauchte etwas, dass wie ‚Danke‘ klang.
Um irgendetwas zu unternehmen, legte er dem Patienten die Hand