Natascha Neumann

Anders Sein


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»Habe ich nicht immer versucht, alles zu tun, was gut und recht ist? Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche, bringe meinen Sohn mit, mein Gesinde. Ich gebe den Armen und helfe, wo immer ich kann, und nun ist Joni krank! Warum?«

      Die Wut und die Verzweiflung hatten ihn vorangetrieben, sodass er den ersten Streckenabschnitt in sechs Stunden zurücklegte, sonst brauchte er wenigstens acht. Er kehrte in einen kleinen Gasthof ein, den er von früheren Reisen kannte, nahm ein spärliches Mahl ein und zog sich dann sofort zurück. In dieser Nacht schlief er das erste Mal seit dem Vorfall wieder tief und fest, die Erschöpfung zeigte Wirkung. Am nächsten Tag ging es ihm schon besser, er fand erneut Trost in der Landschaft, an der er sich zu keiner Jahreszeit sattsehen konnte. Jetzt, im Vorfrühling, sah die Welt frisch gewaschen aus, die Sonne schien, nur vereinzelt wuchs schon frisches Grün an den Zweigen der Büsche. Hier und da gab es große Flecken Schneeglöckchen, ab und zu sah er bereits das leuchtende Gelb des Löwenzahns. Aber die Bilder seines Sohnes, der sich in quälenden Krämpfen auf dem Boden wand, wie er den Kopf hin und her geschlagen hatte, dazu der starre Blick – das alles vermochte er nicht aus seinen Gedanken drängen.

      »Früher haben die Menschen geglaubt, so jemand sei vom Teufel besessen«, hatte Agnes ihm voller Entsetzen zugeflüstert, als das Kind unvermittelt aufhörte zu krampfen, sich benommen an die Stirn fasste, dann zusammenrollte und sofort einschlief.

      »Was ist es denn, das du von mir willst, Gott? Du kannst doch nicht wollen, dass ich dieses Kind verliere? Was willst du mir sagen?«, so fragte Sieker sich am zweiten Tag seiner Wanderung. Er hatte seine Frau Johanne verloren, als das Kind zwei Jahre alt war, vor drei Sommern, aber wenn er ehrlich mit sich war, hatte er sie nie geliebt. Es war eine arrangierte Ehe gewesen, Nachbarskinder, die einander schon früh versprochen worden waren, ihre Eltern hatten etwas Geld, sein Vater die gut gehende Schreinerei, so war für alle gesorgt. Er hatte sie gemocht, sie waren Freunde, ein prima Gespann. Sie vertrugen sich, ihr früher Tod hatte ihm leid getan. Liebe jedoch hatte er für sie nie gefühlt. Nur als sie ihm vor fast sechs Jahren zum ersten Mal seinen Sohn in den Arm gelegt hatte, da hatte er Glück empfunden, Liebe, Verantwortung, Stolz. Dieses überwältigende Gefühl hatte er immer, sobald er an den Kleinen dachte. Er merkte, dass er wieder zu weinen angefangen hatte.

      »Joni ist noch so klein, Gott, lass ihn doch am Leben, bitte!«, betete er, und aus heiterem Himmel fiel ihm Hiob ein. Wie viele Töchter und Söhne waren ihm genommen worden? Haus, Hof, alles, was er hatte, war verloren gegangen und Hiob hatte nicht geheult wie ein Kleinkind! Und er, Sieker, zweifelte schon jetzt an seinem Gott? Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und brachte das vor ihm liegende Wäldchen zum Leuchten. »Der Junge hat einen Anfall gehabt. Einen! Danach hatte er ruhig geschlafen, am nächsten Tag mit großem Appetit gegessen und nicht mehr gewusst von dem, was geschehen war. Er war so fröhlich und munter gewesen wie sonst. Er ist klug, mutig und geschickt. Wenn er tatsächlich krank ist, wird ihm das helfen, damit umzugehen, und wenn das etwas Einmaliges war, um so besser. Am besten, wir vergessen das erst einmal und leben weiter wie bisher. Der liebe Gott wird es schon richten!«

      Die Geschäfte mit Johannpeter dauerten nicht lange und obwohl der Waldbauer in einlud, über Nacht zu bleiben, war Sieker doch gleich wieder aufgebrochen. Er wollte nach Hause, zu seinem Kind.

      Es war Nachmittag, als er erneut an dem Wäldchen vorbeikam, das gestern so bezaubernd im Sonnenlicht geleuchtet hatte, jetzt wirkte der Weg, der durch den Wald führte, beinah schon dunkel. Sieker hatte keine Angst, so oft war er nach seiner Lehrzeit gewandert, hatte im Freien genächtigt und die meisten Wege allein zurückgelegt. Er summte vor sich hin, hatte seinen Seelenfrieden halbwegs wiedergefunden und war eins mit sich und der Welt. Hinter dem Wald breiteten sich Felder aus, dort drüben war ein Bach. Er beschloss, seine Wasserflasche zu füllen. Bis zum Gasthof dauerte es vielleicht ein, zwei Stunden, er würde erst im Dunkeln eintreffen. Er setzte seinen Rucksack ab und legte den Wanderstock zur Seite, holte die Flasche heraus und kniete sich an die Bachböschung, um Wasser zu schöpfen, als er es hinter sich knacken hörte. Er drehte sich um, was aber in seiner knienden Stellung nur halb gelang, da waren sie schon über ihm. Es waren drei Männer, bärtig, ungepflegt. Er spürte die Schläge und Tritte, er roch ihre ungewaschen Leiber, er hörte, wie sie im Weggehen leise fluchten: »Verdammt, da ist ja nichts drin!«

      Dann wurde er bewusstlos.

       4.

      In der ersten Woche hatte Matthis oft neben dem Kranken gesessen, ihm vorsichtig Wasser gereicht, wenn dieser erwachte, seinen Puls gefühlt – Anna hatte es gezeigt und ihm aufgetragen, sie sofort zu rufen, sobald der Puls auffällig schnell würde.

      »Ein Psalm Davids. Nach dir, Herr, verlanget mich.

      Mein Gott, ich hoffe auf dich. Lass mich nicht zuschanden werden, dass sich meine Feinde nicht freuen über mich! Denn keiner wird zuschanden, der dein harret; aber zuschanden müssen sie werden, die losen Verächter

      Matthis las den Psalm langsam, gleichwohl mit Betonung. Die altmodische Sprache der Bibel störte ihn nicht. Er liebte die Psalmen, obwohl er nicht immer verstand, was dort zu lesen war. Der Kranke rührte sich nicht, hatte die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig, nur ab und zu hustete er.

      »Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein.« Wieder ein Hustenanfall, diesmal etwas heftiger. Der Junge legte die schwere Bibel auf den Hocker neben sich, holte ein feuchtes Tuch aus der Schüssel und wischte dem Patienten die schweißnasse Stirn ab. Als er sich zurück auf seinen Platz setzten, griff der Kranke nach ihm.

      »Wie - alt - bist - du?«, fragte er, und seine Stimme war so kraftlos und leise, dass Matthis sich tief in den Alkoven hinein beugen musste.

      »Ich bin im Januar vierzehn geworden«, antwortete er. »Ich bin Matthis, ich hab Sie am Bach gefunden«, erklärte er dann.

      »Jakob - Sieker«, sagte sein Patient mit tonloser Stimme, er versuchte, sich ein wenig aufzurichten, aber das gelang ihm nicht.

      »Bleiben Sie ruhig liegen! Sie brauchen viel Ruhe, hat Anna gesagt!«

      »Mein Sohn …ich«, er hustete heftig. Matthis schob seinen Arm unter die Schulter des Kranken, stützte seinen Kopf mit seiner eigenen Brust und flößte ihm etwas Tee ein. Dann ließ er ihn zurück ins Bett sinken, nahm erneut das Tuch, wischte ihm erst den Mund und danach die Stirn ab und wusch anschließend den Lappen aus. Sieker hatte die Augen geschlossen und atmete wieder gleichmäßiger. Matthis betrachtete ihn eine Weile und fuhr schließlich mit seiner Lektüre fort.

      »Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretung; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen! Der Herr ist gut und fromm, darum unterweiset er die Sünder auf dem Wege. Er leitet die Elenden recht und lehret die Elenden seinen Weg. Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und Zeugnis halten. Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat, die da groß ist!«

      Zu Ostern würde er, mit Abschluss seiner Schulzeit, konfirmiert werden, und die Lektüre der Bibel war für ihn nichts Ungewöhnliches. Er las im Gegensatz zu seinen Brüdern gern, wie auch immer, außer dem heiligen Buch und dem Katechismus gab es zu Hause kaum etwas zu lesen. Von eigenen Büchern träumte er. Der Pastor und der Lehrer liehen ihm mitunter Lesestoff, aber er hatte neben Schule und Hofarbeit ohnehin wenig Zeit. Seit er vier war, half er Mutter, die Hühner zu versorgen, mit sechs war diese Aufgabe seine allein. Er hatte gelernt, die Ställe auszumisten, die Schweine zu mästen, die Kühe zu melken - kurz, er war jetzt vierzehn und wusste alles über die Arbeit auf dem Hof. Er konnte ein Gespann lenken, durfte das aber nie, denn seine Brüder waren die Älteren, sie hatten eben ältere Rechte. Beim Ausbauen des Schweinestalls hatte er die Arbeit mit Holz gelernt, das hatte ihm gefallen, aber er durfte nur flicken und ausbessern und seine Zeit nur ‚nützlich‘ verbringen. Er hatte seit jeher Aufgaben auf dem Hof, mit jedem Jahr wurden diese mehr.

      Gern wäre Matthis weiter zur Schule gegangen, aber dafür gab es weder Geld noch Gelegenheit, es war überhaupt nie darüber gesprochen worden. Nun, da er bald nicht mehr